Made in Ethiopia
Wachstum generiert Äthiopien auf allen Ebenen – damit das ökonomische mit dem demografischen mithalten kann, setzt die Regierung auf einen ambitionierten Industrialisierungskurs nach chinesischem Vorbild.
Noch heißt es in den meisten Hosen in den österreichischen H&M-Filialen „Made in Bangladesh“ – ab und zu auch „Made in Pakistan“, vereinzelt noch „Made in China“. Das dürfte sich aber schon in naher Zukunft ändern: „Made in Ethiopia“ wird immer häufiger auf den Etiketten prangen.
Zumindest, wenn es nach dem Wunsch der äthiopischen Regierung geht, die einen ambitionierten Entwicklungskurs fährt. Noch ist Äthiopien vorrangig ein Agrarstaat. Wenn man durch das Land reist, ist das prägende Bild der in ein traditionelles weißes Baumwolltuch (Gabi) gehüllte Mann, mit Hirtenstab in der Hand und Viehherde im Schlepptau. Oder die Frau, die Injera (Fladenbrot) backt und dabei ihr Baby versorgt. Doch ein massiver Ausbau der Infrastruktur, hohe Investitionen aus dem Ausland und eine deutliche Stärkung des Privatsektors sollen Äthiopien bis 2025 zu einem Land mit mittlerem Einkommen machen – und zum führenden Fertigungszentrum Afrikas. Die ökonomischen Wachstumsraten, die Äthiopien seit Jahren als afrikanischen Champion ausweisen, geben den Plänen Rückenwind. Das durchschnittliche BIP-Wachstum in den Jahren 2006 bis 2016 betrug 10,5 Prozent. Für das Jahr 2018 erwartet die Weltbank ein Wachstum von 8,2 Prozent. Das Ausgangsniveau ist allerdings sehr niedrig: Aktuell liegt das BIP pro Kopf bei 660 Dollar, das sind weniger als 1,5 Prozent des österreichischen Wertes.
Einer der Eckpfeiler der neuen Entwicklungsstrategie ist der Aufbau 16 riesiger Industriekomplexe – neun staatliche sowie sieben private. Der prominenteste wurde im Juli 2016 in Hawassa, etwa 250 Kilometer südlich der Hauptstadt Addis Abeba, eingeweiht. Wenn der Park, der sich auf 140 Hektar erstreckt, einmal fertig ausgebaut ist, sollen hier mehr als 60.000 Menschen Textilprodukte und Lederwaren für westliche Märkte herstellen und jährlich eine Milliarde US-Dollar umsetzen – das entspräche gut 17 Prozent der aktuellen äthiopischen Exporteinnahmen, für die bislang vor allem Kaffeebohnen verantwortlich sind.
Günstige Bedingungen
Seit Jahren weist die Weltbank darauf hin, dass Äthiopien die verlängerte Werkbank der Industriestaaten werden könne: „Äthiopien hat das Potenzial, in vielen Bereichen der Leichtindustrie (Kleidung, Lederprodukte und Agrarwirtschaft) global wettbewerbsfähig zu werden und Millionen Jobs zu schaffen, wenn es gelingt, den Vorteil der geringen Lohnkosten und der vorhandenen natürlichen Ressourcen wirksam einzusetzen“, hieß es bereits in einem Bericht aus dem Jahr 2012. Und etliche Unternehmen sind diesem Ruf gefolgt.
Heute setzen neben H&M auch Calvin Klein, Tommy Hilfiger, Wrangler, Timberland, The North Face und Tchibo auf „Made in Ethiopia“. Auf die Unternehmen geht die äthiopische Regierung mit diversen Incentives, vor allem Steuererleichterungen, zu (siehe Kasten rechts). Zugleich sind Arbeitskräfte mehr als günstig. Die Näherinnen (vor allem sind es Frauen) verdienen unterschiedlichen Berichten zufolge bei einer Sechs-Tage-Arbeitswoche rund 20 bis 40 Euro monatlich – laut der Weltbank liegen die äthiopischen Löhne damit etwa bei einem Viertel jener in China, dessen Textilfabriken noch vor wenigen Jahren mehr als die Hälfte der weltweiten Kleidungsstücke fabrizierten.
Das geringe Lohnniveau steht in engem Zusammenhang mit der explosionsartig wachsenden Bevölkerungszahl. Laut der äthiopischen Regierung müssten jährlich eine Million neue Jobs geschaffen werden, um entsprechende Einkommensmöglichkeiten zu bieten. Hatte Äthiopien im Jahr 2000 noch 63,5 Millionen Einwohner, sind es mittlerweile bereits mehr als 100 Millionen. Im Jahr 2050 könnten es Prognosen zufolge über 160 Millionen sein. Die Textilindustrie kann hier einen wesentlichen Beitrag leisten, da sie sehr viele Arbeitsplätze bietet, für die keine besonderen Qualifikationen benötigt werden. Für nachfolgende Generationen dürfte die Abkehr von reiner Subsistenzlandwirtschaft zusätzlich verbesserte Bildungsmöglichkeiten eröffnen.
Fernöstlicher Faktor
Nach Meinung von McKinsey-Expertin Irene Yuan Sun müssten Äthiopien und ganz Afrika diesen „klassischen Industrialisierungskurs“ gehen, um sich nachhaltig zu entwickeln. Suns Buch „The Next Factory of the World“ dreht sich vor allem um das chinesische Engagement in Afrika, das die Autorin grundsätzlich positiv bewertet. Insbesondere in Äthiopien sind chinesische Unternehmen im großen Stil tätig. Sie erweitern das äthiopische Straßen- und Schienennetz mithilfe chinesischer Kredite erheblich.
Unter anderem bauen sie die für die äthiopische Wirtschaft sehr wichtige 756 Kilometer lange Bahnstrecke von Addis Abeba zum Hafen nach Dschibuti, über den drei Viertel des äthiopischen Außenhandels abgewickelt werden und der ebenfalls in chinesischer Hand ist. Ein weiteres von der chinesischen Export-Import-Bank finanziertes Leuchtturmprojekt ist die Stadtbahn in Addis Abeba – die erste ihrer Art in Subsahara-Afrika. Sie befördert täglich bis zu 150.000 Menschen, eine nicht unwesentliche Entlastung für die stets verstopfte Stadt. Und der 200 Millionen Dollar teure, futuristische Hauptsitz der Afrikanischen Union in Addis Abeba war sogar ein chinesisches Geschenk.
Von einer reinen Erfolgsstory lässt sich aber sicher nicht sprechen: Im Jänner machten Meldungen die Runde, China könnte das Gebäude der Afrikanischen Union verwanzt haben und die Eisenbahn nach Dschibuti wurde offiziell zwar bereits 2016 eröffnet, fährt aber laut dem österreichischen Wirtschaftsdelegierten für Ostafrika, Kurt Müllauer, noch immer nicht richtig (siehe Interview). Dennoch lässt sich die chinesische Dominanz in Äthiopien nicht von der Hand weisen. Auch 33,9 Prozent der äthiopischen Importe kommen aus China, auf Rang zwei folgt Kuwait mit 7,9 Prozent.
Österreichischer Beitrag
Die österreichische Wirtschaft spielt in Äthiopien hingegen eine Nebenrolle, wie Müllauer sagt. Dennoch findet sie hie und da Nischen. So ist der Flugzeughersteller Diamond Aircraft am Aufstieg von Ethiopian Airlines beteiligt. 18 Schulungsflugzeuge verkaufte das Unternehmen aus Wiener Neustadt an Afrikas größte und zugleich am schnellsten wachsende Fluglinie, die seit 2014 auch einen Direktflug von Addis Abeba nach Wien im Repertoire hat. Der internationale Flughafen der äthiopischen Hauptstadt hat sich dabei zu einem wesentlichen afrikanischen Knotenpunkt entwickelt.
Auch weitere österreichische Unternehmen tragen zu dem äthiopischen Aufschwung bei. Bilfinger MCE, Molinari Rail Austria und Voestalpine VAE sind durch Zulieferungen für den Ausbau des Schienennetzes am Aufbau der Infrastruktur beteiligt. Engel Austria liefert seine Spritzgießmaschinen ans Horn von Afrika, der Amstettner Schalungspezialist Doka hat wie in vielen anderen afrikanischen Ländern auch einen Standort in Addis Abeba und das Ennser Unternehmen Cemtec hat im Norden Äthiopiens eine Goldaufbereitungsanlage errichtet.
Eine Zementfabrik, die monatlich 15.000 Tonnen landwirtschaftlich anfallende Biomasse statt importierter Kohle verfeuert sowie eine große Zementverpackungsstation hat das Kärntner Unternehmen A TEC in Mekele im Norden Äthiopiens gebaut. „Auch wenn etwas Geduld aufgebracht werden musste, liefen die Projekte letztlich ausgezeichnet“, sagt der zuständige Vetriebsmanager Michael Suppaner. Ein weiteres A TEC-Projekt in Ostäthiopien ist bereits in Bau.
Soziale Probleme
Das Bevölkerungswachstum und die voranschreitende Urbanisierung verlangen jedoch nicht nur nach Millionen neuer Arbeitsplätze, sondern auch nach Lösungen für das explosionsartige Städtewachstum. Die Bevölkerungszahl von Addis Abeba wird sich in den nächsten zehn Jahren auf mehr als acht Millionen Einwohner verdoppeln. Ganze Stadtteile stampft die äthiopische Regierung dafür aus dem Boden. In Koye, 25 Kilometer südöstlich des Stadtzentrums der Hauptstadt, sollen beispielsweise mehr als 200.000 Menschen in den neu errichteten Plattenbauten unterkommen. Darüber hinaus baut die Regierung darauf, dass die landesweit aus dem Boden sprießenden Industrieparks auch die jeweils angrenzenden kleineren Städte zu begehrteren Wohnorten machen.
Für ihre Bauprojekte siedelt die Regierung ohne Rücksprache zehntausende Menschen aus den Zentren an die Stadtränder um, zudem werden für die Industriekomplexe an den Peripherien Bauern vertrieben und gemeinhin nur geringfügig entschädigt. Auch wenn man dies offiziell nicht als Enteignung bezeichnen kann, da in Äthiopien jegliches Land dem Staat gehört, sind Proteste dennoch vorprogrammiert. „Ein großer Konflikt war und ist der sogenannte Masterplan, der eine deutliche Erweiterung des Stadtgebiets von Addis Abeba vorgesehen hätte. Die Stadt ist von der Ethnie der Amharen geprägt, die umliegenden Dörfer aber von den Oromo. Nun sollten diese eingemeindet werden. Was zum Beispiel bedeutet hätte, dass für die Kinder in den Schulen plötzlich Amharisch statt Oromo als Erstsprache gegolten hätte. Da gab es entsprechend große Proteste“, sagt Tania Berger, Leiterin des Fachbereichs Sozialraum und Migration an der Donau-Universität Krems, die gemeinsam mit äthiopischen Hochschulen städtebauliche Modelle für das Land entwickelt.
Neuer Regierungschef
Ethnische Probleme sind in dem Vielvölkerstaat – mit 120 Ethnien und mehr als 80 Sprachen – an der Tagesordnung. In den vergangenen Jahren starben fast tausend Menschen bei regierungskritischen Protesten. Im Februar hat die Regierung den Ausnahmezustand erklärt – schon wieder, muss man sagen, der vorherige war erst im August 2017 für beendet erklärt worden. Der erneute Ausnahmezustand folgte auf die Rücktrittserklärung des Ministerpräsidenten Hailemariam Desalegn.
Am 2. April wurde sein Nachfolger Abiy Ahmed ernannt. Mit ihm gehört erstmals ein Regierungschef der bevölkerungsreichsten Volksgruppe der Oromo an. Dies könnte die ethnischen Spannungen zumindest mindern. Zudem gilt der neue Premier als Reformer – einige Medien nennen ihn Äthiopiens Barack Obama. Ob der promovierte Soziologe das Land aber wirklich politisch liberalisieren wird, ist noch nicht abzusehen – schließlich entstammt auch der frühere Oberstleutnant der Kaderschmiede der Regierungspartei EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker), die gemeinsam mit ihren Bündnispartnern alle 547 Sitze im Parlament stellt.
Entwicklungssprung
Nicht nur der politische Führungsstil Äthiopiens ist an den chinesischen angelehnt, auch die Veränderung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung entwickelt sich ähnlich rasant wie im China der 1980er Jahre. „Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich das Land zum Besseren verändert. Im Lebensstandard, in der Infrastruktur, der Elektrifizierung, im Gesundheitsbereich. Natürlich von einem niedrigen Niveau ausgehend, aber dennoch ist wirklich eine enorme Dynamik zu beobachten. Ein äthiopischer Projektpartner von mir sagt immer: Als er in die Volksschule gegangen ist, hatte die Hälfte seiner Mitschüler keine Schuhe. Das sieht heute ganz anders aus, zumindest in den Städten“, sagt Raumplanerin Tania Berger, die regelmäßig vor Ort ist.
Dem Tourismus, der sich noch immer in der Warteschleife befindet, wird für die zukünftige ökonomische Entwicklung neben der neu entstehenden Industrie eine Schlüsselfunktion zugeschrieben. Was es braucht, um mehr Touristen ins Land zu locken, ist neben politischer Sicherheit ein Imagewechsel, zu dem auch Tania Berger aufruft: „Wir müssen das Bild von den hungernden Kindern mit den großen flehenden Augen ad acta legen und sagen: Das ist ein Land, das mit massiven Problemen kämpft, aber auch viel bewegt und viele Potenziale hat.“
Dieser Artikel von Frederik Schäfer erschien im Mai 2018 im corporAID Magazin, dem österreichischem Magazin für Wirtschaft, Entwicklung und globale Verantwortung, und wurde mit freundlicher Genehmigung von corporAID veröffentlicht. Mehr Informationen zu corporAID.