Wohlstand und demografischer Wandel?
Wie wirkt sich der demografische Wandel auf Österreichs Wirtschaft und Wohlstand aus?
Österreichs Bevölkerung kommt in die Jahre. Einer wachsenden Gruppe Pensionist*innen steht eine stagnierende Gruppe Erwerbstätiger gegenüber. Wie können wir gegensteuern, um Wohlstand und Wohlfahrt in Österreich zu erhalten?
Im Rahmen des diesjährigen VBV-Zukunftsdialoges diskutierten Nora Tödtling-Musenbichler (Präsidentin der Caritas Österreich), Julia Krenmayr, MSc (Mitgründerin und Geschäftsführerin Generationencafé Vollpension), Frau Marianne (Pensionistin und Mitarbeiterin im Café Vollpension), Univ.Prof. Mag. Dr. Martin Kocher (Bundesminister für Arbeit und Wirtschaft), Univ.Prof. Dr. Bernd Marin (Arbeits- und Sozialforscher) und Mag. Andreas Zakostelsky (Generaldirektor der VBV-Gruppe und CEO der VBV Vorsorgekasse AG). Moderatorin: Roswitha Reisinger, MBA (Herausgeberin und Chefredakteurin BUSINESSART).
Die Ergebnisse wurden von Gudrun Troppmann, Harald Reisinger Nachhaltigkeitsmanagement & Reporting zusammengefasst.
„Die österreichische Gesellschaft altert schneller als sie wächst. Während im Jahr 1950 eine Pensionsleistung noch von sechs Erwerbstätigen finanziert wurde, sind es heute drei. Im Jahr 2040 werden es nur noch zwei sein“, stellte VBV-Generaldirektor Zakostelsky die Ausgangssituation dar. Die Herausforderungen seien enorm, ergänzte die Moderatorin: „Die Babyboomer gehen in Pension, an allen Ecken und Enden fehlen Arbeitskräfte, und fast ein Drittel der Berufstätigen arbeitet in Teilzeit. Vor allem Frauen trifft damit später das Risiko der Altersarmut.“
„Das Ziel ist, mehr Menschen in die Erwerbsarbeit zu bringen.“
Jahrzehnte lang standen sich auf dem Arbeitsmarkt ein großes Arbeitskräfteangebot und eine zu kleine Nachfrage gegenüber. Unsere Systeme und Regeln seien von dieser Zeit geprägt, erläuterte Bundesminister Kocher. Ein Paradigma sei zum Beispiel gewesen: „Jemand, der in der Pension arbeitet, nimmt jemand anderem die Arbeit weg.“ Gegenwärtig wären wir in einer Phase des hohen Arbeitskräftebedarfs. Deshalb passten viele Systeme nicht mehr und müssten umgestellt werden.
Die österreichische Erwerbsquote beträgt derzeit fast 78 Prozent. Das Ziel sei, mehr Menschen in die Erwerbsarbeit zu bringen, so Kocher. Dazu brauche es einerseits Anreize, andererseits ermöglichende Rahmenbedingungen – insbesondere für Frauen. Eine ergänzende gesellschaftliche Debatte über gerechte Aufteilung von Nichterwerbsarbeit hält Kocher für unumgänglich.
Darüber hinaus müsse man den Standort Österreich nicht nur als Wirtschaftsstandort denken, sondern ebenso als Arbeitsmarkt-Standort. „Stichwort Rot-Weiß-Rot-Karte: In den letzten beiden Jahren haben wir fast 15.000 zusätzliche Arbeitskräfte aus Drittstaaten nach Österreich gebracht. Zusätzlich kamen in den letzten beiden Jahren durchschnittlich 42.000 Personen im Rahmen der Personenfreizügigkeit in der Europäischen Union auf den österreichischen Arbeitsmarkt. Doch Österreich muss im globalen Wettbewerb um Arbeitskräfte noch attraktiver werden.“
„Wir brauchen flexible Pensionsalter – angepasst an Präferenzen und unterschiedliche Lebenserwartungen.“
Aus dem Blickwinkel der Arbeits- und Sozialforschung sollten wir über die stetig steigende Lebenserwartung sprechen, warf Univ.Prof. Marin ein. Laut neuerer Altersforschung sei jemand erst mit einer erwarteten Restlebensdauer von weniger als 15 Jahren, und nicht mit +65, „alt“. So betrachtet sinke der Anteil „alter“ Menschen trotz stark zunehmender Gruppe der über 65-Jährigen, und die Gesellschaft altere nicht, sondern verjünge sich sogar.
Vor diesem Hintergrund empfahl Marin an die Langlebigkeit angepasste flexible und variable Regelpensionsalter. „Ohne Berücksichtigung der „Altersinflation“ verlängert sich die Pensionsbezugsdauer automatisch Jahr für Jahr um 70 bis 110 Tage, mit Milliarden Mehrkosten.“
„Auch als Seniorin möchte ich am Arbeitsleben teilhaben.“
Frau Marianne, 79 Jahre alt und Angestellte des sozioökonomischen Betriebes Café Vollpension, bestätigte Marins Aussage. Sie habe das Glück, gesund, interessiert und neugierig zu sein. Ohne Beruf wäre ihr langweilig. Nach ihrer Pensionierung habe sie noch 17 Jahre lang in einer Anwaltskanzlei gearbeitet und jetzt kümmere sie sich seit zehn Jahren um die Gäste des Café Vollpension. Dort können Seniorinnen und Senioren am Arbeitsleben teilhaben, einer regelmäßigen Tätigkeit nachgehen und sich zur oft zu geringen Pension etwas dazu verdienen. Auch genieße sie das Zusammenspiel zwischen Jung und Alt, so Frau Marianne.
Berührungsflächen zwischen den Generationen zu schaffen, sei bei der Gründung vor zwölf Jahren ein wichtiges Motiv gewesen, erzählte Julia Krenmayr, Geschäftsführerin des Café Vollpension. Eine andere Intention war der Wissenstransfer von älteren an junge Menschen – zum Beispiel in Form von Tortenrezepten. Mit dem Café schaffe man außerdem Arbeitsplätze für Senior*innen, auch für solche, die sonst armutsgefährdet wären.
„Seniorinnen und Senioren sind eine Ressource für die Wirtschaft.“
Ein zweites schwerwiegendes Problem sei Altersdiskriminierung in der Arbeitswelt, so Krenmayr: „Ich komme wöchentlich mit Arbeitssuchenden ab 55 in Kontakt, die mir sagen, sie bekämen keine Einladungen zu Bewerbungsgesprächen.“ Das Café Vollpension zeige, dass Ältere eine Ressource für die Wirtschaftswelt seien – sofern ein Unternehmen bereit zu Diversitätsmanagement sei. Weil Arbeit in der Gastronomie anstrengend ist, arbeiten die Senior*innen in 5-Stunden-Diensten und nur zweimal die Woche. Der große Mehrwert für die jungen und die alten Kolleg*innen gleiche die höhere Komplexität bei der Dienstplanung aus.
VBV-Chef Andreas Zakostelsky brachte ein, dass in der VBV schon heute Kollegen über das Pensionsantrittsalter hinaus arbeiteten. Zur Reduktion der Stressbelastung wurde ihr Aufgabenbereich geringfügig umgestaltet. Der Vorteil sei, dass der VBV Know-how erhalten bleibe.
Professor Marin stellte das Konzept der Altersrisiko-Tarifierung vor: Für Arbeitnehmer*innen und Unternehmer*innen würden Sozialversicherungsbeiträge an die Höhe des empirischen Arbeits- und Erwerbslosigkeitsrisikos einer Person angepasst. SV-Beiträge für Prime-Agers zwischen 20 und 55 Jahren würden um zwei Prozentpunkte erhöht, jene für junge und ältere Menschen um bis zu 90 Prozent reduziert werden. Dadurch würden sich die Beschäftigungsperspektiven sowohl für die 1,9 Millionen „Boomer“ als auch für die junge „Generation Prekariat“ verbessern.
„Es sind systemische Mängel, die Frauen in die Altersarmut führen.“
„Vielen Frauen fehlen die Rahmenbedingungen, um sich für eine Vollerwerbsarbeit entscheiden zu können“, sagte Caritas-Präsidentin Nora Tödtling-Musenbichler. Sie zeigt auf, dass es systemische Mängel seien, die Frauen in die Altersarmut drängen. Aufgrund fehlender öffentlicher Kinder- und Altenbetreuungsinfrastruktur bliebe die Familien- und Care-Arbeit an den Frauen hängen. Die verbleibenden Kapazitäten reichten nur für eine Teilzeit-Erwerbstätigkeit: „Sehr oft sind das schlechter bezahlte Positionen, weil gut bezahlte Stellen mit Kinderbetreuungspflichten nicht vereinbar sind.“ Als Ergebnis sei jede fünfte Frau ab 65 in Österreich armutsgefährdet. Um den öffentlichen Pflegebereich auszubauen, müsse legale Migration gefördert werden. Brachliegendes Arbeitsmarktpotenzial sieht Tödtling-Musenbichler in jener Gruppe der Migrant*innen, die in Österreich sind, aber nicht arbeiten dürfen.
Minister Kocher führte aus, dass vielen Fällen weiblicher Altersarmut Trennungen zugrunde liegen. Seines Erachtens wäre ein automatisches Pensionssplitting eine geeignete Gegenmaßnahme.
„In Österreich herrscht eine dramatische Ungleichheit zwischen den Geschlechtern.“
Professor Marin stimmt Minister Kocher beim automatischen Pensionssplitting zu und kritisierte das Bild von der Frau als bloßer „Dazuverdienerin“: „Verglichen mit den meisten EU-Ländern sind wir so konservativ, dass bei uns immer noch mehr unbezahlte Haushaltsarbeit als bezahlte Berufsarbeit stattfindet.“ Ein Großteil der geleisteten Arbeit flösse dadurch nicht in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein. Zusätzlich führe die dramatische Ungleichverteilung unbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen zu chronischen Ungleichheiten im Erwerbsleben.
Andererseits ist unsere Gesellschaft auf die unbezahlte Care-Arbeit der Frauen angewiesen, weil die vorhandenen Angebote den Bedarf nicht decken können, so Tödtling-Musenbichler. Ihr dringendstes Anliegen sei daher soziale Absicherung jener Menschen, die unbezahlte Care-Arbeit leisten. Durch eine Anhebung des Ausgleichszulagenrichtsatzes um 200 Euro auf das Niveau der Armutsgefährdungsschwelle könne Armut in Österreich um ein Drittel reduziert werden.
Kocher plädierte dafür, dass sich Männer an allen Teilen der Nichterwerbsarbeit beteiligen. Auch Väter sollen in Karenz gehen, um ihren Partnerinnen Vollzeit-Arbeit zu ermöglichen – dafür hätte man beispielsweise mit der Umsetzung der Vereinbarkeits-Richtlinie einen ersten Schritt gesetzt.
Präsidentin Tödtling-Musenbichler begrüßte das, wies aber zugleich auf einen weiteren strukturellen Mangel hin: „Haben wir derzeit Frauengehälter, mit denen eine Familie ernährt werden kann, ohne dass es während der Karenzzeit zu „Working Poor“ kommt? Aktuell verdient eine Frau brutto im Schnitt um 900 Euro weniger.“
Über eine Million Frauen arbeiten in Österreich Teilzeit und trügen deswegen das Armutsrisiko, führte Marin aus. Selbst wenn Frauen – umgelegt auf Vollzeit – gleich viel verdienen würden wie Männer, blieben sie mit ihrem Teilzeitgehalt häufig armutsgefährdet. Auf diese Falle müsse man ungeschminkt hinweisen.
„Die betriebliche Altersvorsorge muss ein Mehrheitsprogramm werden.“
Teilzeitarbeit bedeute auch Teilzeitpension, ergänzte Zakostelsky. Die VBV biete ihren Kund:innen die Möglichkeit, die staatliche Pensionsleistung freiwillig durch eine betriebliche Pensionsvorsorge zu ergänzen. Die derzeit nur bescheiden genutzte Möglichkeit der betrieblichen Altersvorsorge müsse wie für die Mehrheit der EU-Bürger:innen, zwei Drittel der Deutschen und über 90 % der Holländer oder Schweden endlich auch in Österreich ein Mehrheitsprogramm wie die „Abfertigung NEU“ werden, pflichtete ihm Marin bei.
Zakostelsky plädiert darüber hinaus wie auch Marin für eine Aufgabenerweiterung der österreichischen „Alterssicherungskommission“. Sie solle nicht nur für die staatlich finanzierte Pension zuständig sein, sondern auch für die betriebliche und die private Vorsorge.
„Immer mehr Menschen scheitern am Druck der Arbeitswelt.“
Moderatorin Roswitha Reisinger lenkte den Fokus auf Menschen, die wegen körperlicher oder psychischer Belastungen aus dem Arbeitsprozess fallen: „Wie kann deren Potenzial wieder verfügbar gemacht werden?“
Es gäbe tatsächlich immer mehr Menschen, die am Druck der Arbeitswelt scheitern würden, antwortete Tödtling-Musenbichler. Die Praxis zeige, dass Beschäftigungsprojekte gezielt helfen, Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen. Unternehmen, die bereit seien, eingeschränkt leistungsfähige Menschen anzustellen, bräuchten mehr finanzielle Unterstützung. Damit Menschen langfristig voll im Erwerbsleben stehen könnten, müsste man Arbeit als etwas definieren, das Sinn und Freude macht, anstatt zu belasten. „Wir können nicht nur in der Dimension Hochleistungsgesellschaft denken.“
Professor Marin hält zwar eine Hochleistungsgesellschaft für unverzichtbar für Wertschöpfung, Innovation und Erhalt unseres Wohlstands. Allerdings brauche es eine „solidarische Hochleistungsgesellschaft“, die auch jene mitnähme, „die in dieser dünnen Luft nicht gut operieren können“.
„Eine 4-Tage-Woche käme den Bedürfnissen aller Menschen entgegen.“
VBV-Chef Zakostelsky stellte fest, dass zuerst verdient werden müsse, was im Rahmen des Sozialsystems verteilt werden solle. Er beobachte mit Sorge, dass immer mehr junge Menschen Teilzeitarbeit nachgingen, um Arbeits- und Privatleben in Balance zu halten. Als Gegenmaßnahmen schlägt er einerseits Leistungsanreize vor, und andererseits die Schaffung eines attraktiven und zeitgemäßen Arbeitsumfeldes. Die VBV habe mit Co-Working-Spaces und modernen Cafeteria-Bereichen moderne Austausch- und Arbeitsbereiche geschaffen.
Krenmayr berichtete, dass sie viele junge Menschen kenne, die sich Arbeit mit Sinn wünschten, und sieht es als Aufgabe der Arbeitswelt, sich an veränderte Werte anzupassen. „Wenn ich das Gefühl habe, ich und meine Arbeit werden wertgeschätzt, und ich arbeite mich nicht krank, dann mag ich mich vielleicht auch noch im Alter von 70 oder 75 ins Arbeitsleben einbringen. Und das wiederum hält Menschen lange gesund und fit.“
Moderatorin Reisinger brachte ihre Wahrnehmung ein, dass sich Familienarbeit nur unzureichend bewältigen lasse, wenn beide Elternteile Vollzeit arbeiten. Marin bestätigte, dass ein „Elternpaar als Familieneinheit“ heute häufig deutlich mehr bezahlte Arbeit leiste als dessen Großeltern. Die Zeit für die Kinder hätte sich dadurch reduziert. Jedoch: „Um den Wandel zu bewältigen, müssen wir zugleich mehr und weniger arbeiten – flexibler, produktiver und nachhaltiger. Rund um die Uhr laufen Maschinen und werden Dienste angeboten. Damit Arbeitnehmende steigende Betriebszeiten bewältigen können, sollten Unternehmen kürzere Wochenarbeitszeit, individuelle Wahlarbeitszeit und eine 4-Tage-Woche anbieten.“ Das würde nicht nur den Bedürfnissen junger und älterer Menschen entgegenkommen, sondern sei von großen Mehrheiten gewünscht.
Am Ende plädierte Marin dafür, Arbeit, Pension und Wohlfahrt in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, damit sich die drei Aspekte „gegenseitig stützen anstatt sich zu kannibalisieren“. Julia Krenmayr wünschte sich mehr Räume für Dialog – zwischen Nationalitäten, Geschlechtern und natürlich Generationen. Man sehe auch am Beispiel des VBV-Zukunftsdialogs, dass in solchen Räumen Bewusstseinsbildung passiert.