"Ein gesonderter Umweltschutz wäre durch die Harmonisierung aller Ressourcen nicht mehr notwendig."
Das Lebenswerk von Stefan Schleicher spannt von den ersten in Österreich mit Computermodellen erstellten Wirtschaftsprognosen bis hin zu provozierenden Vorschlägen für einen neuen Umgang mit humanen, materiellen und natürlichen Ressourcen. Eingebettet in diese gut fünf Jahrzehnte seiner Tätigkeiten sind Studierende, die er zu einem kritischen Hinterfragen der an den Universitäten vertretenen Meinungen ermuntert, die Begleitung fast aller politischen Prozesse zu Energie und Klima in diesem Zeitraum, aber auch viele nicht immer konstruktiv bewältigte Kontroversen mit Minister*innen und Manager*innen. Sein gerade erschienenes Buch “Wirtschaft neu denken - wie radikale Innovationen uns zukunftsfit machen“ versteht sich angesichts der multiplen Krisensituation als Startpaket für eine Sanierung unseres Lebens- und Wirtschaftsstils.
BUSINESSART: Was war der Auslöser dafür, das Thema Nachhaltigkeit in der Wirtschaft aufzugreifen und sowohl in der Lehre als auch in der Forschung dranzubleiben?
Dr. Stefan Schleicher: An den Universitäten Stanford und Berkeley in den USA entdeckte ich zum Beginn der siebziger Jahre Spuren, die mich neugierig machten. Mediziner, die am Tag Herzchirurgie praktizierten, organisierten am Abend eine Free Clinic, wo man auch ohne eine gut dotierte Kreditkarte behandelt wurde. Eine ähnliche Subkultur spürte ich bei jungen Professoren meiner Profession auf, die zwischen anspruchsvollen mathematischen Wirtschaftsmodellen und der Suche nach einem globalisierbaren Wirtschaftsstil pendelten. Orientierung dazu gab das 1973 publizierte und in 27 Sprachen übersetzte Buch von E. F. Schumacher,“ Small Is Beautiful - A Study of Economics as if People Mattered.“
Was waren dabei die das größten Herausforderungen? Hast du Anfeindungen erlebt?
In meiner Profession war ich einer der ersten, der diese Spuren auch in Österreich bekannt machte. Der 1987 veröffentlichte Brundtland-Bericht mit dem Titel „Our Common Future“ war ein weiterer Meilenstein. Der Bericht führte den Begriff „Nachhaltige Entwicklung“ ein und legte die Grundlage für eine kräftige Revision des bis dahin praktizierten Mainstreams in Sachen Wirtschaft. Die lange Liste von Kontroversen, in die ich hineingezogen wurde, enthält Kollegen, die mir den Umbau der österreichischen Wirtschaft zu Biobauern unterstellten, und Generaldirektoren, die meine Kompetenz in Sachen Wirtschaft insgesamt bezweifelten.
Viele Wissenschaftler*innen sind seit Corona enormen Anfeindungen ausgesetzt. Wie gehst du damit um? Wie soll man solchen Menschen begegnen? Kann man sie gewinnen?
Die seit Corona zunehmende Wissenschaftsskepsis wurde sowohl seitens der Politik aber auch von sich als Wissenschaftler bezeichnenden Personen verursacht. Auch Medien sprangen auf diesen Zug auf, weil damit Einschaltquoten zu gewinnen waren. Versäumt wurde meiner Meinung nach eine respektvolle und ernsthafte Auseinandersetzung mit allen Betroffenen. Das wäre nun mit einigen Schwierigkeiten nachzuholen.
Wie weit sind wir in der Veränderung des Wirtschaftssystems gekommen?
Das Wirtschaftssystem und der damit verbundene Wirtschaftsstil haben sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten fundamental verändert. Die in den siebziger Jahren als Flugpost in die USA aufgegebenen Briefe mit rund zwei Wochen Reisezeit wurden durch sofort zugestellte digitale Medien abgelöst. Noch in den achtziger Jahren fuhr ich jährlich für einige Tage nach England, um in den dortigen Bibliotheken Literatur aufzustöbern, die ich in Österreich nicht bekommen konnte. Heute kann ich mir fast jederzeit jedes Buch und jeden Zeitschriftenartikel über das Internet besorgen. Dieser Verlust von geografischen Distanzen bewirkte Globalisierungen in den Lieferketten, die wir nun wieder rückgängig machen wollen, weil sie brüchig geworden sind. Ein hochpreisiges in Deutschland produziertes Auto konnte über Monate nicht geliefert werden, weil der in Vietnam produzierte Verschluss für den Kofferraumdeckel nicht geliefert wurde. Ähnliches passierte mit Grundstoffen für pharmazeutische Produkte und für Kunststoffe aus Indien. Noch gibt es keinen politischen Konsens über die Beendigung der Erdgasbezüge aus Russland, womit wir den Krieg mit der Ukraine mitfinanzieren. Wir haben viele Gründe darüber nachzudenken, wo unser Wirtschaftsstil korrekturbedürftig ist.
Wie kann der Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Umweltschutz ein so greifbares Thema werden, dass alle Menschen dahinterstehen und mitmachen?
Mein Verständnis von Wirtschaft bemüht sich, alle Ressourcen beginnend von Menschen über biogene Ressourcen, wie Tiere und Pflanzen, materiellen Ressourcen, wie die seltenen Erden für die Elektromobilität, und schließlich die natürlichen Ressourcen Boden, Luft und Wasser, den gleichen Ansprüchen auszusetzen. Diese wären für den Bestand vorsorgend und um eine Verbesserung bemühend überall dort, wo Fehlleistungen zu toxischen Störungen führten. Anzusprechen wären dabei die extremen Ungleichheiten bei den Lebenschancen von Menschen, die Überschreitung von Grenzen bei Emissionen in die natürlichen Ressourcen, aber auch die zunehmenden geopolitischen und militärischen Konflikte. Ein gesonderter Umweltschutz wäre durch diese angestrebte Harmonisierung aller Ressourcen nicht mehr notwendig.
Welche Kompetenzen/Skills waren/sind für deinen Erfolg besonders wichtig?
Ich habe sehr von meinem Studium an der Technischen Universität Graz mit Schwerpunkten Maschinenbau und Energie profitiert. Dann bin ich dankbar für die Zeit am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien, wo ich fantastische Gastprofessoren kennenlernte, die mir die Türen zu Universitäten in den USA öffneten. Dort erhielt ich in einem Umfeld der sorgenden Offenheit meine Prägungen für meine akademischen Tätigkeiten.
Du hast bisher an dich herangetragene Ehrungen und Auszeichnungen abgelehnt. Dazu bestärkt hat dich der Wirtschaftsstil der deutschen Hanse, die eine ähnliche Einstellung hat. Für BUSINESSART hast du eine Ausnahme gemacht. Warum?
Auf der Suche nach einem globalisierungsfähigen Wirtschaftsstil stieß ich auf die deutsche Hanse. Charakteristisch waren deren kaufmännische Tugenden, wie Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Bescheidenheit, verbunden mit geschäftlicher Effizienz. Ehrungen und Auszeichnungen wurden weitgehend abgelehnt. Nachdem ich oft Zeuge von Ehrungen war, mit denen eigentlich fragwürdige Aktivitäten kaschiert werden sollten, fühle ich mich viel besser in der hanseatischen Tradition der Distanz zu Eitelkeit und Überheblichkeit.
Deshalb verstehe ich die durch BUSINESSART mir zugeteilte Etikettierung als nachhaltiger Gestalter als eine Auszeichnung für BUSINESSART, bei der ich nur die Rolle eines Mediators habe. Mir sind in meiner professionellen Entwicklung viele Türen zu jenem Zeitpunkt geöffnet wurden, an dem ich dafür bereit war durchzugehen. Dafür bin ich vielen meiner Weggefährten dankbar. BUSINESSART ist für mich der eigentliche Empfänger der mit meiner Person verbundenen Würdigung, weil dieses Medium mit Beharrlichkeit die Suche nach einem zukunftsfähigen Wirtschaftsstil begleitet, der vom persönlichen Lebensstil bis zu globalen Lieferketten reicht.
Gibt es einen Leitsatz / ein Leitmotiv deines Lebens? Wenn ja, wie lautet er?
Am wichtigsten ist für mich „carpe diem et respice finem“, nämlich "Nütze den Tag und bedenke das Ende." Nach enttäuschenden Erfahrungen richtet mich oft wieder ein Zitat auf, das Oscar Wilde zugeschrieben wird: „Everything will be okay in the end. If it's not okay, it's not the end.", nämlich „Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende.“
Weitere Informationen
Website: stefan.schleicher.at