Guido Güntert, Carina Pimpel, Albert Brandstätter, Lebenshilfe Österreich
Inklusion ist der Schlüssel zur Nachhaltigkeit. Die Lebenshilfe fordert seit Jahren Inklusion als demokratische Grundhaltung und fährt Projekte wie bspw. "Gehalt statt Taschengeld".
Zum Kurzvideo mit Carina Pimpel, Guido Güntert und Albert Brandstätter
Durch Werkstätten, Tagesangebote und Wohnangebote werden knapp 8.800 Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung langfristig bei der Umsetzung eines selbstbestimmten Lebens unterstützt.
BUSINESSART: Wie hat Ihr Projekt begonnen?
Guido Güntert: Wir haben vor ca. 15 Jahren begonnen das Thema Inklusion als Leitstern für die Lebenshilfe zu sehen Bereits in den 1990-er-Jahren gab es eine starke Bewegung Richtung inklusive Bildung. Damals ist die Salamanca-Erklärung Im Kontext des Themas Bildung entstanden. Das war ein Paradigmenwechsel. Als Lebenshilfe, als Interessensvertretung von Menschen mit Behinderungen, müssen wir uns dieser Haltung annähern, und nicht nur das: Wir müssen sie auch von der Politik einfordern und die Gesellschaft entsprechend gestalten.
Albert Brandstätter: International wurde schon lange von Inklusion gesprochen, in Österreich waren wir in zwei bis drei Jahre später dran. Die Lebenshilfe hat dann 2007 die erste Tagung zum Thema Inklusion gemacht. Natürlich gab es schon Vorarbeiten, weil wir gewusst haben, dass sich unser Zugang zur Begleitung behinderter Menschen fundamental ändern und auf neue Grundsätze gestellt werden muss: Weg von der klassischen Integration hin zur Inklusion. Das gilt sowohl für die eigene Organisation als auch für die Gesellschaft. Denn das bedingt sich gegenseitig. Inklusion ist nicht nur ein theoretisches Konstrukt, sondern muss sich in ganz konkreten Schritten in der Praxis zeigen.
Der Schritt, der zur Nominierung als nachhaltiger Gestalten geführt hat, war u.a. der sogenannte U-Prozess.
Güntert: Bereits am Anfang der Pandemie sind die dramatischen Auswirkungen sichtbar geworden, die Unsicherheit war hoch. Wie entwickelt sich der Arbeitsmarkt? Was macht das mit uns als Gesellschaft? Wie wertet jede*r Einzelne das für sich das aus? Was bedeutet das für die Wirtschaft? Was bedeutet das für die Steuereinnahmen? Wird in Zukunft noch genug Geld da sein, damit wir unsere Arbeit machen können? Man hat sich auch an ähnliche Situationen erinnert, die zu dramatischen gesellschaftlichen Verwerfungen geführt haben, mit fatalen Auswirkungen. Aus dieser Unsicherheit heraus entstand die Frage wie wir damit umgehen. Das war der Start des sogenannten U-Prozesses nach Claus Otto Scharmer, den wir heuer im Sommer abgeschlossen haben. Wir haben uns gefragt, wie wir unsere Dienstleistungen nach der Pandemie bzw. sobald die dramatischen Auswirkungen vorbei sind, weiter anbieten beziehungsweise wie wir sie anpassen müssen und auch was das für uns in der Interessensvertretungsarbeit bedeutet.
Brandstätter: Wir haben uns vor allem zunehmend gefragt was wir unter Inklusion verstehen. Verwenden wir einen engen oder sollten wir den Inklusions-Begriff nicht zunehmend erweitern? Denn, wenn wir uns für Menschen mit Behinderungen einsetzen, muss es logischerweise auch darum gehen, deren Umfeld barrierefrei zu gestalten. In der Arbeit rund um das Sozialhilfe-Grundgesetz haben wir - mit anderen sozialen Einrichtungen, wie zum Beispiel der Armutskonferenz – gesehen, dass wir uns auch für andere ausgegrenzte Gruppen wie alleinerziehende Mütter und Väter, alte Menschen oder Menschen mit anderer kultureller Herkunft einsetzen müssen.
Es reicht nicht, sich als Behinderten-Organisation für Menschen mit Behinderungen einzusetzen. Obwohl das weiterhin wichtig ist und dies unsere zentrale Zielgruppe ist. Dieses Verständnis hat auch etwas mit einem Verständnis von Nachhaltigkeit zu tun. Wenn wir Inklusion erreichen wollen, dann bedeutet das, die Gesellschaft als solche inklusionsfit zu machen. Daher müssen wir unsere eigenen Haltungen und Denkprämissen reflektieren.
Das war die Überlegung zu Beginn des Prozesses, verstärkt durch die Pandemie, die zeigt, dass alle betroffen sind.
Güntert: Integration bedeutet vom Begriff her, dass sich der Mensch in das System integriert. Im beruflichen Kontext bedeutet es, dass der Mensch das lernt, was im Unternehmen gefordert wird. Der inklusive Ansatz wäre, Systeme zu schaffen die barrierefrei sind - in der gesamten Gesellschaft. Im beruflichen Kontext bedeutet es, dass man sich fragt, was de*r Klient*in gut kann. Und wo kann ich ihn oder sie daher im Unternehmen gut einsetzen. Es geht darum, nicht den Menschen anzupassen, sondern die gesellschaftlichen und damit auch betrieblichen Rahmenbedingungen. Beides kann man machen, aber der nachhaltigere Weg ist zu schauen, was der Mensch kann und wie man ihn bestmöglich inkludieren kann.
Brandstätter: Inklusion bedeutet, dass Menschen überall mitmachen können, dass sie ihren Platz finden und dabei anerkannt sind, dass sie dafür die notwendige Unterstützung bekommen. Sie müssen sich nicht an vorgegebene Ausbildungen oder Berufsbilder anpassen. Sondern die Gesellschaft macht einen Schritt auf sie zu und öffnet sich.
Das bedeutet auch für eine Organisation wie die Lebenshilfe, eine öffentliche Verwaltung, eine Schule, dass nicht die Logik der Organisation oder der Verwaltung in den Mittelpunkt gestellt wird, sondern der Bedarf, die Fähigkeiten und der Wille der einzelnen Person, die auf ihrem Weg unterstützt wird. Das ist eine ganz andere Denke. Heute gilt noch: Wir schreiben einen Job aus, wie vom Unternehmen vorgesehen, gestalten Budgets aus bestimmten Strukturüberlegungen, die einzelne Person kommt darin weniger vor. Wir sind in einem langfristigen Veränderungsprozess der nicht von heute auf morgen geht. Aber er bedeutet nicht nur eine Verbesserung für Menschen mit Behinderungen, sondern für alle Menschen.
Corona hat ja gezeigt, dass Effizienz nicht die einzige Zielsetzung für ein Unternehmen sein kann.
Güntert: Wir könnten das reframen. Was ist höchste Effizienz? Wenn ich die Ressourcen, die in einer Gesellschaft vorhanden sind dadurch aktiviere, dass ich entsprechende Rahmenbedingungen schaffe, dann ist das höchste Effizienz. So lasse ich viele Ressourcen einfach auf der Straße liegen.
Carina Pimpel: Wir können Inklusion als Narrativ für den Weg aus der Krise sehen, als Demokratieverständnis, eine Haltung, die als Innovationsprinzip aus der Krise erzählt werden muss. Inklusion heißt ja etymologisch miteinbeziehen.
Wie ist der Prozess abgelaufen?
Güntert: Beim U-Prozess geht man verschiedene Phasen durch. Die erste Phase ist das Downloading um das Thema breit zu beleuchten. Dafür haben wir namhafte Expert*innen eingeladen, die soziologische und wirtschaftliche Aspekte eingebracht haben, wie z.B. Prof. Badelt, Dr. Prainsack, u.a.m. Menschen, die auf der Metaebene auf das Thema draufschauen. Es war sehr spannend zu sehen, was sie wahrnehmen und was sie glauben, wohin es geht.
Welche Erkenntnisse konnten Sie gewinnen?
Güntert: Dass wir mit dem Narrativ der Inklusion einen riesigen Hebel in der Hand haben. Das spannende war: Am Beginn des Prozesses haben wir ein eingeschränktes Verständnis von Inklusion gehabt, das immer mehr gewachsen ist. Wir haben miteinander entdeckt, dass der Begriff über das gesellschaftliche hinaus gedacht werden und auch Mutter Erde miteinschließen muss. Es geht nicht nur um uns Menschen, es geht auch darum unsere Lebensgrundlage zu inkludieren: „Leave no one behind“.
Damit sind nicht nur Menschen gemeint, sondern alles Leben. Lebenshilfe ist Hilfe fürs Leben. Dass wir das jetzt so wahrnehmen dürfen heißt nicht, dass wir den Schritt schon gegangen sind. Aber im Prinzip haben wir einen großen Hebel mit unserer Kompetenz, was Inklusion anbelangt, in der Hand.
Pimpel: Inklusion kann auch als Gestaltungsprinzip wahrgenommen werden, welches einen Reformimpuls darstellen kann und Potenziale einer neuen kulturellen Entwicklung bieten kann. Es ist eine gute Grundlage für das Leben von Menschen mit Behinderung, aber auch als gesamtgesellschaftliche Transformation. Die Welt steht ja spürbar vor Veränderungen –wirtschaftlich, ökologisch, sozial und das ist mit viel Ungleichgewicht verbunden. Die Klimakrise braucht eine andere Wirtschaftspolitik, die sich am Wohlergehen der Menschen ausrichtet. Da gehört eine intakte Lebensumwelt auch dazu.
Mit unseren Projekten wie „Gehalt statt Taschengeld“ oder unserer Vorstudie zum 2-Säulenmodell versuchen wir dazu beizutragen, dass jeder Mensch und im speziellen auch Menschen mit hohem und komplexen Unterstützungsbedarf einen wertgeschätzten Platz inmitten unserer Gesellschaft einnehmen können.
Wenn ich Ihnen so zuhöre ist Inklusion für Sie ein anderes Wort für Nachhaltigkeit.
Güntert: Der Untertitel der SDGs – leave no one behind - steht eigentlich für eine nachhaltige und inklusive Welt. Das war auch das Aha-Erlebnis für unseren Begleiter Alfred Strigl. Erst durch den Prozess mit der Lebenshilfe sei ihm klar geworden, welche Bedeutung Inklusion hat, im Sinne der Haltung.
Pimpel: Ich würde sogar sagen, es steht darüber. Denn Inklusion heißt miteinbeziehen, wenn man es vom sprachlichen her betrachtet, und da ist eine ökologische und eine soziale Komponente dabei. Wenn man Wertschätzung für die Vielfalt hat, dann gehört alles wie ein Puzzleteil zueinander.
Güntert: Inklusion heißt, alles Lebende miteinander sehen, dass sich alles Lebende auf Augenhöhe begegnet, dann kann man letztlich nur nachhaltig handeln. Wenn ich den Regenwald als lebendiges System wahrnehme, mit dem ich in Verbindung stehe, dann kann ich ihn nicht abholzen, weil mir das gerade lustig ist. Das Ganze ist ein fragiles Mobile. Die inklusive Haltung ist ein fragiles Konstrukt, das man*frau tagtäglich in Balance halten sollte.
Was waren die größten Herausforderungen? Wie haben Sie sie bewältigt?
Güntert: Die große Frage war, ob es uns gelingen wird, die Kapazunder für unseren Prozess ins Boot zu holen. Das war sowas von überhaupt kein Problem. Fast alle, die wir uns gewünscht haben, haben teilgenommen und sich sehr tief in das Thema eingelassen.
Brandstätter: Ich war ja nur am Anfang dabei, weil ich dann ausgeschieden bin. Wichtig war für mich, externe Expertise zu bekommen. Dass fast alle mitgemacht haben hat mich positiv überrascht. Es hat bewiesen, dass die Kraft des Inklusionsgedankens – als Teil eines neuen framings unseres Gesellschaftsverständnisses - sehr viel bewirken kann, auch für Menschen, die sich nicht ständig damit auseinandersetzen.
Nachhaltigkeit und Inklusion sind für mich einander ergänzende Denkbewegungen, die einander bedingen. Menschen sind als Gemeinschaft zu denken, wo jeder Einzelne in seinem sozialen Umfeld zu denken und zu begleiten ist, und gleichzeitig die Welt als Ökosystem zu erhalten ist – das bewirkt auch eine neue Gesellschaftsordnung., die sich heranbilden muss.
Wenn man mit Firmen redet oder mit der Industrie, dann findet man grundsätzlich Verständnis dafür. Das heißt nicht, dass es immer getan oder geleistet wird. Aber der Wille, sich damit auseinanderzusetzen ist bei vielen Menschen da. Dieses Narrativ, diese Möglichkeit neu zu denken und neu zu gestalten ist toll.
Die zweite offene Frage war, ob sich die Lebenshilfe – sie ist ja eine komplexe Organisation, mit Landesverbänden, mit Menschen mit Behinderungen, mit Angehörigen, mit Mitarbeitenden, die alle ihre eigenen Ansprüche, Vorstellungen und Sorgen haben – auf so einen Prozess einlassen, in dem man die eigenen Grundlagen hinterfragt. Wo man weggeht vom Gewohnten, vom Bequemen, das man bereits beherrscht. Die Gremien hätten ja auch sagen können, das sie das nicht wollen. Sie haben aber gesagt, ja, das wollen wir, und auf dieses Wagnis lassen wir uns ein.
Wo steht der Prozess nun? Gab es auch schwierige Phasen?
Güntert: Der Prozess wurde im Sommer abgeschlossen. Wir haben tolle Ergebnisse und gehen jetzt in Diskussion mit den Gremien und werden unser Leitbild überarbeiten. Ich bin gespannt darauf und glaube, dass das, was erarbeitet wurde, eine große Kraft hat.
Die Arbeitsgruppe für den Prozess war sehr heterogen zusammengesetzt. Es waren Menschen mit Behinderung, also Selbstvertreter*innen dabei, Vertreter*innen des Dachverbands, aus den Dienstleistungsunternehmen und der Angehörigen. Das ist das Grundprinzip der Lebenshilfe – trialogisch vorzugehen.
Was war das schönste Erlebnis?
Güntert: Das schönste Erlebnis war, dass – obwohl sich die Menschen noch nicht lange kannten, auch bedingt durch eine gute Moderation – eine sehr sehr tiefe Begegnung möglich war, eine große Öffnung. Man konnte sehr persönliche Wahrnehmungen teilen, es gab berührende Momente. Da wird die Kraft in der Lebenshilfe spürbar, wenn man sich mit Offenheit und Vertrauen begegnet.
Pimpel: Das habe ich genauso erlebt. Dieses Hineinspüren im Kollektiv bedingt ein gewisses Vertrauen, damit man seine Erfahrungen und Erkenntnisse mit der Gruppe teilt.
Was sind die nächsten Schritte?
Pimpel: Jetzt ist ein partizipativer Strategieprozess geplant. Anfang Oktober wurde er im Präsidium präsentiert, die Reaktion war sehr positiv. Danach folgen die anderen Gremien. Wir wollen auch Resilienzgespräche führen, um gemeinsam die Zukunft inklusiver zu denken.
Wieso sollen Unternehmen auf Inklusion achten?
Güntert: Wieso nicht?
Mein Startim sozialen Bereich war der Aufbau der Arbeitsassistenz, mittlerweile würde ich es Inklusionsberatung nennen. Da habe ich eine hohe Offenheit erlebt, vor allem bei kleinen und mittelständischen Unternehmen, weil sie sich regional engagieren, wenn das Paket stimmt.
Wann stimmt das Paket?
Güntert: Da braucht es eine gute Beratung, in der Fragen geklärt werden, wie „Wie mache ich das als Unternehmen? Worauf muss ich achten? Was mache ich, wenn es Probleme gibt? Wie schule ich ein? Wie verklickere ich es meinen Mitarbeiter*innen?“
Und es muss von der finanziellen Ausgestaltung ein fairer Deal sein. Das ist auch auf-Augenhöhe-begegnen. Unternehmen haben gewisse wirtschaftliche Rahmenbedingungen in denen sie sich bewegen. Wenn ein Mensch mit Beeinträchtigung weniger leisten kann, aber trotzdem im Vergleich zu anderen Kollegen die gleiche Stundenanzahl arbeitet, dann sollte das ausgeglichen werden. Das wäre eine feine gesellschaftliche Haltung um die Teilhabe an der Gesellschaft im Kontext von Wirtschaft und Arbeitswelt zu ermöglichen.
Zu 90 Prozent habe ich eine große Freude aller Beteiligten erlebt. Bei den Menschen mit Beeinträchtigung erlebe ich einen großen Stolz, im Unternehmen mitzuarbeiten und die eigenen Fähigkeiten einzubringen. Auch die Kolleg*innen sind stolz in einem Unternehmen zu arbeiten, das so etwas ermöglicht und dafür einen Rahmen schafft.
Brandstätter: Ich glaube, dass es auch für Unternehmen zunehmend gut ist, aktiver nachzudenken. Internationale Unternehmen haben Stabssstellen eingerichtet, mit eigenen Diversity & Inclusion-Manager*innen, die sich um diesen Themenbereich kümmern, und das hat etwas mit dem intrinsischen Verhalten zu tun. Darauf zu schauen, wie gehe ich mit der Verschiedenheit meiner Mitarbeitenden um, mit Menschen mit Behinderung, mit Menschen verschiedener Herkunft, sexueller Ausrichtung. Es geht darum, das in einer guten Art und Weise in meinen Betrieb miteinzubeziehen und gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Sich zu überlegen, welche Herausforderungen sind da, welche Schritte kann ich tun, unter Einbeziehung möglichst vieler interner und externer Personen, wie kann ich das auswerten und den Zyklus wieder beginnen. Viele Unternehmer*innen haben ein hohes Interesse sich in diese Richtung zu bewegen, weil sie sehen, dass es gut für das Klima und die Entwicklung im Unternehmen ist.
Seit vielen Jahren erleben wir, wenn Menschen gut einbezogen und der Betrieb gut gestaltet ist, dass sich das Klima verbessert. Das tut allen gut. Durch das Aufbrechen von starren Strukturen wird man agiler, das bietet ein hohes Potenzial an Innovation. Unternehmen machen das nicht nur weil sie gute Menschen sind, sondern weil sie auch gut rechnen und strategisch denken können.
Wenn man dieses Bewusstsein stärker verankert und entsprechende Unterstützung anbietet– Beratung, gesetzliche Rahmenbedingungen, Vorteile im Steuerbereich – dann wird das viele positive Früchte bringen.
Güntert: Im Nachhaltigkeitskontext könnte man sagen, es ist eine Maßnahme gegen die ‚Betriebsklima-Krise‘.
Pimpel: Wir haben kürzlich an einer Climate-Walk-Tour mit unseren Selbstvertreter*innen mitgewirkt. Und der Leitspruch dafür war: Klimawandel braucht Gesellschaftswandel – Gesellschaftswandel braucht Inklusion. Das eine bedingt das andere. Gerade Unternehmen sollten erkennen, dass sich die Produktivität verbessert, wenn man Arbeitsplätze um den Menschen herum aufbaut, dass ein Mehrwert generiert wird, der sich in vielen Folgekosten, die man sich erspart, niederschlägt und zu einem guten Impact führt.
Brandstätter: Vor allem bei Menschen mit intellektueller Behinderung nützt es nichts, einen Job auszuschreiben. Man muss mit ihm und rund um ihn das passende Arbeitsfeld entwickeln. Das ist ein wichtiger Lernprozess, den man auch bei anderen Jobs anwenden und im ganzen Betrieb umsetzen kann. Heute arbeiten alle eher mit flexiblen, agilen Teams, der allgemeine Trend für zukunftsfähiges Arbeiten geht in diese Richtung. Das ist eine Investition, die sehr schnell etwas zurückbringt, sei es monetär oder auf das Betriebsklima bezogen.
Pimpel: Ein Stichwort ist hier auch „Supported Employment“.
Christian Felber hat in seinem Buch „Gemeinwohlökonomie“ geschrieben „Menschliche Würde bedarf keiner Leistung außer der bloßen Existenz.“ Das ist jetzt vielleicht ein bisschen überspitzt formuliert, aber als Argumentationsgrundlage führe ich immer an, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sehr stark leistungsorientiert ist. Aber Grundlage der Menschenwürde ist, dass jeder Mensch seinen Platz inmitten der Gesellschaft hat, mit seinen Stärken, Ressourcen und Fähigkeiten und dass wir als soziale Gesellschaft diesen Menschen, gerade jenen mit komplexem Unterstützungsbedarf diese Möglichkeit der selbstbestimmten Lebensführung und der vollen Teilhabe einräumen müssen. Das ist für viele Unternehmen ein Anreiz, hier einen Beitrag zu leisten.
Welche Rahmenbedingungen wünschen Sie sich, damit Inklusion besser möglich ist?
Güntert: Das zentralste System, das wir verändern müssen ist die Schule, das Bildungssystem. Wenn wir Menschen schon in der Kindheit voneinander trennen braucht es nachher große Anstrengungen um sie wieder zusammenzuführen. Das ist schon eindeutig nachgewiesen.
Wenn schon sehr früh ein Miteinander stattfindet, trägt sich das in späteren Lebensbereichen, ob in der Arbeit, Nachbarschaft, Kultur oder was auch immer ist.
Da gibt es eine nette Geschichte einer Tiroler Kollegin. Ihr nicht behinderter Sohn besuchte einen integrativen Kindergarten. Der ORF-Tirol berichtete über den Kindergarten und fragte den Kleinen, neben dem ein schwer behindertes Kind spielte, wie es ihm im Kindergarten gefällt. Und er sagte „eh super.“ „Ja, aber das schon ein besonderer Kindergarten, es gibt schon Kinder, die irgendwie anders sind.“ Da sagte der kleine Mann: „Ja, stimmt. Da gibt es einen, der ist wirklich anders. Dem schneidet die Mama immer die Rinde vom Jausenbrot ab.“ So sind Kinder. Es ist ihnen letztlich blunzn, ob jemand im Rollstuhl sitzt, oder nicht lesen, nicht sehen oder nicht sprechen kann. Das ist denen egal.
Diese Systeme gehören dringend verändert, weil sie pro futuro einer der größten Hebel für ein inklusives Miteinander sind. Wenn sie Menschen mit Beeinträchtigung oder Menschen mit Migrationshintergrund als selbstverständlichen Banknachbarn oder Banknachbarin erleben dann wird es später genauso sein.
Pimpel: Auch in der Salamanca-Erklärung steht, dass inklusive Bildung der Nährboden für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft ist. Das ist wichtig für Randgruppierungen, die am Rand gehalten werden und so exkludiert werden – das beginnt im Kindergarten und geht weiter bei der Systematik unserer Rechtsordnung.
Brandstätter: Wir haben über die Schule gesprochen, über die Arbeit, Arbeitsbedingungen. Für mich ist auch wichtig, dass wir in den Kommunen gute Beteiligungsmöglichkeiten schaffen damit sich jede und jeder zu jeder Zeit und von jedem Ort am Gemeinschaftsleben beteiligen kann. Da gibt es ganz viele Schritte zu tun: von örtlichen Regelungen, über den Verkehr – wie komme ich von a nach b, wenn ich unterstützt werden muss. Da kann noch viel von den Kommunen und Bezirksverwaltungen geleistet werden. In einem innovativen Setting, im Ermöglichen von Ressourcen die bereits da sind. Das sind Menschen, die bereit sind, andere zu unterstützen. Und gleichzeitig braucht es den Abbau der vielen Bürokratiemonster auf allen Ebenen. Das fängt an bei der Frage „Wie bekomme ich einen Behindertenausweis, Pflegegeld, oder sonstige Unterstützungen.“ Da ist dermaßen viel an Bürokratie zu leisten, sowohl von Einzelnen, als auch von Organisationen - das menschengerecht zu machen ist auch gesellschaftsgerecht.
Was ist der Leitsatz Ihres Lebens? Ihr Leitmotiv?
Pimpel: Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse aber nicht für jedermanns Gier (Gandhi). Gleich der indischen Friedensnobelpreisträgerin Vandana Shiva und ihrer Vision einer gerechten Weltordnung, der »Erd-Demokratie«, sehe ich einen Leitweg in einem erd- und menschzentrierten Ansatz der Diversität als Wert und Quelle von Reichtum, sowohl materieller als auch kultureller Art sieht, welche ihrerseits die Bedingungen für Nachhaltigkeit schafft.
Güntert: Ich habe nicht den einen Leitsatz. Ich glaube, es darf sich, je nach Lebensphase verändern. Jetzt ist es bei mir der Satz von Rabindranath Thakur: „Wer Bäume setzt, obwohl er weiß, dass er nie in ihrem Schatten sitzen wird, hat begonnen, den Sinn des Lebens zu begreifen.“ Wir müssen oft so dicke Bretter bohren, das werden wir nicht mehr erleben. Aber es lohnt sich.
Brandstätter: Ich bin evangelischer Theologe und ich habe für mich das Gebot „Du sollte den anderen lieben wie dich selbst“ übersetzt in eine säkulare Sprache, und das heißt: Gib dem anderen die selben Lebensmöglichkeiten wie dir selbst, für die Gegenwart und für die Zukunft.
Carina Pimpel, Inklusionspolitik Lebenshilfe Österreich, Guido Güntert, Geschäftsführung Salzburg, Albert Brandstätter, Inklusionsexperte, ehemaliger Generalsekretär der Lebenshilfe Österreich.
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