"Wenn wir aufhören zu warten, bis es die anderen tun, dann sind wir schon mittendrin."
Heute andere unterstützen, später kümmert sich Zeitpolster um Sie. Das ist das Konzept von Gernot Jochum-Müller. Er hat ein System für Altersvorsorge entwickelt, das auf Zeitbasis funktioniert. Man hilft älteren Menschen oder Familien mit einfachen Unterstützungsleistungen und erhält dafür eine Zeitgutschrift, die später selbst für Betreuungsleistungen eingelöst werden kann. Heute ist sein System bereits in Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Niederösterreich, Oberösterreich, Steiermark und Wien sowie im benachbarten Liechtenstein erfolgreich im Einsatz. 1.500 engagierte Menschen haben bereits 75.000 Stunden für ihre eigene Betreuung angespart. Auch Gemeinden oder Unternehmen können sein System nützen.
BUSINESSART: Was war der Auslöser dafür, dass Sie dieses Projekt gestartet haben?
Gernot Jochum-Müller: In früheren freiwilligen Tätigkeiten äußerten sich ältere Menschen über das wertvolle Netzwerk das entstanden war, sie konnten aber nichts mehr zurückgeben, was sie belastet hatte. Als Berater durfte ich mehrere Modelle im Bereich Betreuung begleiten, da ist mir aufgefallen, dass die Zeitgutschriften Modelle eine hohe Relevanz haben, aber nicht gut umgesetzt wurden. Der gesellschaftliche Nutzen konnte sich so nicht entfalten. Es gab also mehrere Ursachen, ich will auch zeigen, dass dies ein gangbarer Weg in der Pflege- und Betreuungskrise ist.
Was hat Sie ermutigt, so lange dranzubleiben?
Wenn man mit fast 50 ein gut funktionierendes Business aufgibt und nochmal gründet, ist man sehr überzeugt von der eigenen Idee. Bis dahin gab es aber auch eine lange Vorlaufzeit. Jetzt sind es die unzähligen Geschichten wie zufrieden betreute und Helfende sind. Bei unserer Umfrage, die das MCI gemacht hat, gaben 95 der Helfenden an, dass das Zeitkonto teil der Altersvorsorge ist. Und 98% der Betreuten sind top zufrieden. Das ist sehr beeindruckend und Ausdruck eines großen Vertrauens in Zeitpolster. Wir wachsen enorm und finden viel Zuspruch.
Was war das größte Hindernis?
Zu Beginn brauchten wir 1,5 Jahre, um die rechtlichen Grundlagen zu klären, das ist heftig und fordert sehr. Die zweite vielleicht noch größere Hürde ist Menschen und Organisationen zu finden, die bereit sind in ein soziales Unternehmen, das nur kleine Renditen versprechen kann, zu investieren. Dank Corona dauert diese Phase bei uns auch länger. Österreich könnte in Sachen Impact Investing einen großen Schub vertragen.
Welche Kompetenzen/Skills waren für Ihren Erfolg besonders wichtig?
Aufgrund meiner verschiedenen Ausbildungen vereine ich mehrere Dinge. Ich kann in Technik und IT denken, Prozesse entwickeln, Communitys bzw. Organisationen gestalten und einigermaßen mit Gesetzen umgehen. Zuhören und Ideen entwickeln ist mir sehr wichtig. Aber vieles musste ich einfach auch lernen. In einem tollen Team zu arbeiten ist eine Bereicherung. Aber gerade im Bereich Kommunikation, lerne ich laufend viel dazu.
Wie kann der sorgsame Umgang miteinander, die Solidarität ein so greifbares Thema werden, dass alle Menschen dahinterstehen und mitmachen?
Indem wir es tun. Es beginnt im Kleinen und unmittelbarem. Vielleicht mit den Nachbarn, mit Menschen die uns auf der Straße begegnen. Wenn wir aufhören zu warten, bis es die anderen tun, dann sind wir schon mittendrinn. Und es ist wirklich ansteckend und macht Freude. Schauen wir uns das bei den Kindern ab, statt es ihnen abzugewöhnen. Dann brauchen wir Rahmenbedingungen die das Fördern. Wir sind gesellschaftlich auf Konkurrenz getrimmt und vernachlässigen oft das verbindende. Zeitpolster ist ein tolles Beispiel dafür. Über 65% der Freiwilligen waren vorher nicht freiwillig aktiv.
Gibt es einen Leitsatz / ein Leitmotiv Ihres Lebens? Wenn ja, wie lautet er/es?
Wenn wir von System Change reden, ist mir der Satz von Dee Hock – dem Gründer von VISA wichtig geworden. „Unter den richtigen Bedingungen erzielen alle Menschen ständig außergewöhnliche Leistungen.“
Zeitpolster – Verein für Zeitvorsorge, Dornbirn
Branche: Betreuung
Anzahl der Mitarbeiter*innen: 7 in Teilzeit, 180 Freiwillige in Organisationsteams
Website: www.zeitpolster.com