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Nicole Traxler,
Alles Clara,
Two Next GmbH

Plötzlich rund um die Uhr verantwortlich.

Foto: Ian Ehm

Nicole Traxler wird für folgende Leistung ausgezeichnet:

Rund eine Million Menschen in Österreich pflegen Angehörige. Sie unterstützen Familienmitglieder oder andere nahestehende Personen bei der Körperpflege, organisieren Arztbesuche, helfen beim Essen oder sind einfach da und hören zu. Aber manchmal wird alles zu viel und man weiß nicht weiter. Da hilft die App Alles Clara. In virtuellen Beratungsräumen helfen professionelle Berater*innen der Caritas, Diakonie, Hilfswerk, Rotes Kreuz oder Volkshilfe via Chat, Telefon-, Sprach- und Bildnachrichten.  Der Pilotbetrieb läuft, die ersten Beratungen wurden erfolgreich durchgeführt. Der Normalbetrieb soll Ende 2023 starten.

Dass es Alles Clara gibt hat paradoxerweise mit einer langsamen Internetverbindung zu tun. Nicole Traxler, die treibende Kraft hinter diesem Projekt, landete deshalb während ihres Betriebswirtschaftsstudiums in einem Social Entrepreneurship Kurs – und ist geblieben. Traxler: „Es hat mir gefallen, zu überlegen, wie man Wirtschaft und Soziales verbinden kann.“ Nach dem Studium baute sie den Social Impact Award in Österreich mit auf und initiierte und begleitete seine ersten Schritte nach Rumänien und Tschechien. „Die Motivation der Einreicher*innen und die Ideen, die wir begleiten, auszeichnen und unterstützen durften, haben mir gezeigt, dass der oder die Einzelne wirklich viel bewegen kann.“

Im zweiten Lockdown 2020 setzte sie – mittlerweile Mitarbeiterin in der ERSTE Stiftung – gemeinsam mit der Caritas und dem Ludwig-Boltzmann-Institut Digital Health and Patient Safety – Alles Clara auf, um pflegende Angehörige zu unterstützen. Nach einer intensiven Entwicklungsphase ging die App im Sommer 2022 in den Probebetrieb.

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Michaela Reisinger, LEBENSART, Nicole Traxler, Two Next Gmbh/Alles Clara, Roswitha Reisinger, BUSINESSART. Foto: Martina Draper

BUSINESSART: Was ist die größte Herausforderung für pflegende Angehörige?

Nicole Traxler: Pflegende Angehörige sind einer Vielzahl von Belastungen ausgesetzt und übernehmen viele unterschiedliche Rollen, für die sie gar nicht ausgebildet sind. Ein pflegender Angehörige hat mir mal gesagt, dass er für seine Frau Weckdienst, Koch und Servicekraft, Assistent in der Körperpflege und Nahrungsaufnahme, Sekretär, Chauffeur, Wasch- und Putzdienst ist. Er macht das gern, weil er sie liebt, aber natürlich beslastet das. Es ist also oft diese Vielzahl an Aufgaben und Verantwortungen, rundum die Uhr, jeden Tag, ohne abschalten zu können.

Studien zeigen die daraus resultierenden eigenen körperlichen und psychosozialen Belastungen, zudem brechen in Familien oft auch alte ungelöste Konflikte wieder auf. Aber auch die soziale Isolation, die mit der Betreuung eines Angehörigen oft einhergeht, sowie der zeitliche und finanzielle Mehraufwand tragen zur Belastung bei.

In unserer Arbeit sind wir auch auf die Analogie eines Kartenhauses gekommen. In vielen Haushalten etablieren sich individuelle Pflege- und Betreuungssysteme. Diese funktionieren, solange alles klappt, aber sind wie ein Kartenhaus nicht zwingend stabil. Ändert sich eine Kleinigkeit – fallen zum Beispiel Betreuungs- oder Pflegedienste aus oder tritt ein Krankheitsschub auf – dann stürzt das „Kartenhaus“, das System, ein. Als pflegender Angehörige musst du dir dann ein neues, auf die neue Situation adaptiertes System aufbauen –   und das meist in einememotionalen Ausnahmezustand. Diese Situationen sind zusätzlich nochmal besonders fordernd und anstrengend.

Was sind die häufigsten Fragen, die Ratsuchende in Alles Clara stellen?

Aufgrund des Datenschutzes kennen wir die genauen Fragestellungen nicht. Die Berater*innen berichten über zwei grundlegenden Arten von Fragen:  

  1. Informations- und präventive Fragen, wie „Meine Eltern werden immer schusseliger. Muss ich mir Sorgen machen? Wer hilft mir im Fall der Fälle wie weiter?“ Sie sind meist einfach zu beantworten und die Leute sind glücklich, weil ihnen die Information Sicherheit gibt.
    Auch Führungskräfte innerhalb von Unternehmen melden sich und fragen, was sie unterstützend tun können, wenn sie merken, dass ein Teammitglied eine nahestehende Person pflegt und zB. fünf Mal am Tag angerufen und aus seiner Arbeit herausgerissen wird.
  2. Komplexe individuelle Herausforderungen, in denen die Situation meist schon emotional angespannt ist und geklärt werden muss, welche Richtung eingeschlagen werden soll. Wenn zum Beispiel das Krankenhaus meldet, dass der Vater/die Mutter nach der Entlassung nach dem Sturz nicht mehr selbstständig leben kann. So etwas löst viele Fragen und Unsicherheiten aus. Dabei wissen die Angehörigen oft noch gar nicht, was sie fragen müssen, weil sie die Situation erst einmal verstehen müssen. Da können die Berater*innen in Alles Clara unkompliziert und rasch unterstützen, Orientierung, Information und Entlastung bieten.

Gibt es Gruppen, die es besonders schwer haben?

Studien zeigen, dass „die pflegenden Angehörigen“ keine homogene Gruppe sind. Es gibt eine Vielzahl von Teilgruppen, die alle ihre spezifischen Herausforderungen und Belastungen haben. Wir haben uns in diesem Jahr z.B. intensiver mit pflegenden Eltern auseinandergesetzt. Sie bleiben oft ungesehen und unbeachtet, dabei stehen sie vor vielen Herausforderungen, die Eltern gesunder Kinder nicht haben, z.B. an den Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Institutionen und am Übergang ins Erwachsenenleben ihrer Kinder. So ändert sich für sie am Ende der Pflichtschulzeit ihrer Kinder viel, da u.a. die Betreuung untertags wegfällt. Kinder, die lernen wollen, bekommen keinen Schulplatz mehr genehmigt, tausende Betreuungsplätze fehlen und Eltern müssen daher ihren Job aufgeben. Wenn Eltern für ihre Rechte und die ihrer Kinder in Sitzstreik gehen, denk ich mir:  Das kann doch nicht sein!

Wer kann die Alles Clara-App derzeit nutzen?

Aktuell kooperieren wir mit mehreren großen Unternehmen, deren Mitarbeiter*innen die App im Sinne der Gesundheitsvorsorge vorab nutzen können und mit ihrem Feedback zur Weiterentwicklung beitragen. Diese Kooperationen wollen wir weiter ausbauen und zusätzlich gerne einen Weg finden, den Mittelstand in Österreich zu erreichen. Denn KMUs haben im Vergleich oft weniger Angebote in der Gesundheitsvorsorge für Mitarbeiter*innen.

Der Datenschutz im Gesundheitsbereich ja ein zentrales Thema. Wie geht ihr damit um?

Wir haben neun Monate gebraucht, um diese Herausforderung zu bewältigen - mit viel Unterstützung durch Sascha Jung und seinem Team von Jank Weiler Openyi und der Guidance durch Prof. Nikolaus Forgó vom Institut für Innovation und Digitalisierung im Recht der Universität Wien. Wir haben viele Konzepte entwickelt und wieder verworfen – das hat uns extrem gefordert und uns einige graue Haare beschert . Aber letztlich konnten wir ein datensicheres Online-Beratungs-Tool schaffen: Wir arbeiten mit zwei Organisationen um die Verschlüsselung der end-zu-end verschlüsselten Datenräume aufzuteilen. Alle Berater*innen unterliegen der gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht ihrer Berufsgesetze. So ist der Datenschutz letztlich zu einem Asset von Alles Clara geworden.

Was sind die nächsten Schritte?

Wir würden Alles Clara wahnsinnig gern Ende 2023 für alle pflegenden Angehörigen österreichweit kostenlos zur Verfügung stellen können. Dafür müssen wir die Alles Clara zu einem Online-Beratungsangebot weiterentwickeln, auf das weder Ratsuchende noch Berater*innen verzichten wollen. Zusätzlich braucht es für ein nachhaltiges Aufsetzen und einen Regelbetrieb das Zusammenwirken aller Sektoren, also Pflegesektor, Privatwirtschaft und öffentliche Hand.

Auf Seiten der Pflegeorganisationen haben wir bereits erste Indizien, dass die Arbeit in der Online-Beratung positive Wirkung auf die Mitarbeiter*innen hat und so zur Weiterentwicklung von Berufsfeldern wie der Pflege beitragen kann. In Zeiten eines hohen Mangels an Pflegekräften, wo Abteilungen teilweise geschlossen werden müssen, weil das Personal fehlt, sollten wir alle ein Interesse haben, aktiven Personen Wertschätzung entgegenzubringen und Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen. Alles Clara kann hier einen Beitrag leisten. Die Online-Beratung bietet ein flexibles und körperlich entlastendes Element im Arbeitsalltag von Pflegekräften. Die Berater*innen werden ausgebildet und zu Kompetenzvermittler*innen. Dies soll Pflegekräfte länger als die durchschnittlich 6,5 Jahre im Job halten und auch eine weitere Einsatzmöglichkeit für schwangere, kranke oder beeinträchtige Personen bieten. Wir haben heute bereits Berater*innen wie Yvonne aus Kärnten, die mit der Online-Beratung von Teilzeit aufstocken konnte und so zum ersten Mal Vollzeit in der Pflege beschäftigt sein kann.

Das freut uns deshalb so sehr, weil wir wissen, dass es beides braucht – die professionelle Pflege und jene durch Angehörige. Bis zu 80 Prozent der nötigen die Betreuung und Pflege übernehmen Angehörige, und hier mehrheitlich Frauen. Dass diese Rolle und die damit verbundenen Aufgaben stark belasten, haben wir schon besprochen. Die körperlichen, seelischen und wirtschaftlichen Folgen sind oft schwerwiegend und gehen von Einsamkeit, Isolation und Burn-out bis zur eigenen Pflegebedürftigkeit und Altersarmut. Hier gilt es präventiv und niederschwellig anzusetzen, frühzeitig Orientierung zu geben, weitere bestehende Entlastungs- und Unterstützungsangebot aufzuzeigen, aber letztlich auch Mitarbeiter*innen, und eben besonders Frauen, in Beschäftigung zu halten. Alles Clara könnte hier einen Beitrag leisten.

Diesen frühzeitigen Ansatz, sowie die Schnittstellen und Weiterleitung zu bestehenden Angeboten sind Gründe für eine Unterstützung des Sozialministeriums in der Pilotphase. Auch für einen österreichweiten Regelbetrieb ist die öffentliche Hand wichtig. Da Pflege Landessache ist, sind wir bereits in Gespräche mit den ersten Bundesländern gestartet. Ich würde mir wünschen, hier in den kommenden Monaten erste Modellregionen aufzubauen und mittel- bis langfristig gemeinsam ein Finanzierungsmodell zu entwickeln, das die frühzeitige digitale Entlastungsberatung kostenlos für alle pflegenden Angehörigen in Österreich sicherstellt. Schließlich geht uns das Thema alle an, viele privat wie beruflich und oft auch Bundesländergrenzen-überschreitend.

Wie ist das Feedback aus dem Probebetrieb?

Anfang Oktober haben wir das erste Feedback aus den Beratungen bekommen. Es ist erfreulicherweise durch die Bank positiv.

  • Die Angehörigen nehmen das Angebot als Entlastung wahr und nachdem wir beim Login auf Basis des ersten Feedback Änderungen vorgenommen haben, ist auch hier die Niederschwelligkeit kein Thema mehr. Auch inhaltlich sind die Rückmeldungen sehr positiv. Ein Ratsuchender hat uns z.B. geschrieben: „Die Verzweiflung beim Telefonieren, wenn man von einer Person zur nächsten weitergeleitet wird, kostet enorm viel Kraft und das fällt mit der App weg“. Das zeigt sich besonders in bundesland-übergreifenden Anfragen. So eine hat auch unsere Betriebsärztin Eva Höltl in der Testphase vorm Launch eingebracht. Ihr Berater hat sie sehr positiv überrascht, als er in wenigen Stunden alle relevanten Informationen für sie bereit hatte, für die sie als Ärztin dann doch zwei bis drei Wochen gebraucht hätte.
  • Die Berater*innen sind ganz begeistert, dass man über die App so gut beraten kann: „Ich war wirklich sowas von positiv überrascht, dass genau diese schriftliche und asynchrone Art extrem viel ausmacht. Und dass man da wirklich viel überlegter und treffender und irgendwie sicherer jemanden beraten kann, als wenn das persönlich stattfindet“. Sie haben die Zeit, zwischen den Zeilen zu lesen und beraten nur, was Thema ist.
  • Die Wertschätzung ist auf beiden Seiten enorm hoch. Ein*e Berater*in hat dies so ausgedrückt: „Wertschätzung. Das ist ein gesehen werden und gehört werden und gelesen werden“ und das auf beiden Seiten. Das tut allen gut. Wir haben auch die Rückmeldung bekommen, dass sich die Berater*innen nicht gedacht haben, dass ihre Arbeit und die Pflege so lustvoll und so freudvoll sein kann.

Was fasziniert dich an deiner Arbeit?

Einerseits habe ich mich ins Problem „verliebt“ oder festgebissen: Die Betreuung und Pflege von Angehörigen betrifft einen Großteil der Bevölkerung. Fast jede und jeder war schon mal direkt oder indirekt in der Rolle, kennt sie aus der Familie oder wird mal in der Rolle sein. Trotzdem reden wir nicht darüber. Viele sind stark belastet, dennoch fällt es ihnen schwer Hilfe in Anspruch zu nehmen - sie landen oft im Burn-out. Das wurmt mich so richtig – wenn es uns alle betrifft, wie können wir dann wegschauen und wie kann es uns unangenehm sein, darüber zu sprechen? Und warum ist die Pflege von Angehörigen weiblich und warum ist es so stark Familiensache? Warum so verpönt, Hilfe in Anspruch zu nehmen? Mit Alles Clara versuchen wir dafür ein niederschwelliges und individuelles Hilfsangebot zu erarbeiten, das von allen Sektoren getragen und umgesetzt wird.

Wer unterstützt dich?

Privat sind das meine Familie und Freunde, die sehr unterstützend sind, zuhören, mitdenken, challengen, vernetzen, mich auf andere Gedanken bringen und auch wirklich sehr nachsichtig sind, wenn ich Themenstellungen mit ins Wochenende nehme.
Beruflich unterstützen mich so viele Menschen, dass ich gar nicht alle nennen kann. Wir arbeiten schließlich mit über hundert Personen aus den unterschiedlichen Bereichen in unterschiedlichen Rollen an Alles Clara – jede und jeder einzelne von ihnen trägt einen essenziellen Beitrag zur Initiative bei. Meine Vorgesetzten in der Stiftung, allen voran Eva Höltl und Boris Marte, geben mir sehr viel Entfaltungsraum, bringen mir viel Vertrauen gegenüber und lassen mich sehr viel lernen. In der Arbeit zu Alles Clara habe ich so extrem viele liebe, wertschätzende, unterstützende, fordernde und fördernde Personen kennengelernt, von denen mir wirklich viele ans Herz gewachsen sind – und die jedenfalls Alles Clara, aber auch mich unterstützen. Und klar, ohne mein Team geht nichts – hier unterstützen wir uns gegenseitig enorm, das macht wirklich viel Freude und gibt mir viel Vertrauen für all unsere weiteren Schritte.

Gibt es so etwas wie einen Leitsatz deines Lebens?

Nein, ich habe keinen Leitsatz für mein Leben, aber ich glaube, dass Authentizität, Neugier, Offenheit und ein Lächeln auf den Lippen ganz gute Begleiter in allen Lebensbereichen sind.

Two Next GmbH und Alles Clara

- Verein zur Entlastung pflegender Angehöriger

Branche: IT Dienstleistung und gemeinnütziger Verein

Anzahl Mitarbeiter*innen:

www.alles-clara.at