Interview mit Univ.Prof. Dr. Sigrid Stagl
Der Ökonom und Mathematiker Prof. Franz Josef Radermacher meinte kürzlich in einem Interview, ein Ausstieg aus fossilen Energien sei einerseits für Länder wie Indien oder China nicht möglich, andererseits aus Klimasicht nicht notwendig – vorausgesetzt man setze auf Carbon Capture …
Stagl: Puh … ich habe nichts gegen neue Technologien, aber CCS (Anm.: Carbon Capture and Storage) ist noch immer eine schlecht getestete Technologie, mit einem Miniaturpiloten in Island. Außerdem ist sie sehr teuer. Ich habe mit Geolog*innen darüber gesprochen und die sagen, dass es komplett stabile Gesteinssysteme nicht gibt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich Verschiebungen im Gestein ergeben können. Das heißt, hier haben wir Unsicherheiten. Sobald Verschiebungen entstehen, haben wir „Cracks“ und dann wird das CO2 eventuell irgendwann entkommen. Wir vermeiden das Problem nicht, sondern wir verschieben es nur. Ich fürchte, dass es so ähnlich ist wie bei der Endlagerung des Atommülls und dass man darauf setzt, dass sich künftige Generationen damit auseinandersetzen. Das finde ich ethisch verwerflich. Ich sehe derzeit nicht, wie die Technologie den großen Beitrag leisten kann, auf den viele setzen. Das ist der zweite Punkt, der mich bei dieser Argumentation stört: Es gibt so viele andere Wege. Ich sehe es als einen Verzweiflungsakt, den ich nachvollziehen kann, aber ich würde zuerst andere Dinge ausprobieren wollen.
Was wären diese Dinge?
Da gehört Energiesparen dazu, Energieeffizienz in der Industrie und ein Korrigieren der Preise, damit endlich die Marktteilnehmer*innen die richtigeren Preissignale bekommen – da gibt es so viele ganz klare Dinge, von denen wir seit Langem wissen, dass sie gemacht werden müssen. Diese Maßnahmen müssen nur umgesetzt werden.
Diese Maßnahmen haben Sie vor Kurzem gemeinsam mit Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace und WWF für einen sofortigen Ausstieg aus fossiler Energie gefordert. Wie könnte der „sofort“ gelingen?
Das Wichtigste ist, dass wir nicht von jetzt starten und fragen, welche Maßnahmen können wir setzen. Wir müssen es umkehren: Wir müssen uns fragen, wo müssen wir hin, und dann zurückdenken was nötig ist, um dorthin gehen zu können. Das klingt pedantisch, ist aber eine ganz andere Herangehensweise. Diese bringt uns vermutlich dazu, dass es nicht um eine, zwei oder drei Maßnahmen geht, sondern um eine Kombination von vielen, gut aufeinander abgestimmten Maßnahmen, die alle wirtschaftlichen Akteur*innen betreffen werden. Damit geht es nicht mehr darum, wer mehr betroffen ist und wer weniger. Alle werden stark davon betroffen sein. Alle werden sich am Riemen reißen müssen. Vielleicht macht es das aber auch leichter, weil es nicht mehr darum geht, ob ich mich als einzelne Person an der Transformation beteiligen muss. Alle müssen sich daran beteiligen. Und das Wichtigste ist, dass man von einer vollen Toolbox ausgehen kann. Das heißt, dass wir nicht nach dem Allheilmittel suchen – also nach DER Steuerreform oder DER Großtechnologie –, sondern es geht um die kluge Kombination der effektivsten, gut getesteten, evaluierten Maßnahmen. Da sind im IPCC-Bericht der Working Group 3 so schöne Diagramme drinnen, in denen dies für verschiedene Sektoren herunterdekliniert wurde: Wo stehen wir, und welche Maßnahmen führen dazu, dass wir hinunterkommen. Das ist relativ simpel und trivial. Aber wir tun es nicht. Eine Transformation ist viel mehr als einzelne Maßnahmen. Eine Transformation ist eine Veränderung von strukturellen Elementen des Systems.
Man kann von einer vollen Toolbox ausgehen. Das heißt,
dass wir nicht nach dem Allheilmittel suchen – also nach DER Steuerreform oder DER Großtechnologie –, sondern es geht um die kluge Kombination der effektivsten, gut getesteten,
evaluierten Maßnahmen. Sie finden sich im IPCC-Bericht der Working Group 3.
Dazu gehört der Ausbau von erneuerbaren Energien. Österreich steht diesbezüglich gut da, andererseits sind wir massiv von russischem Erdgas abhängig. Wie realistisch ist, dass wir bis 2030 das Ziel erreichen, ausschließlich grünen Strom zu haben?
Es ist eine Engineering-Aufgabe – und da gibt es natürlich Herausforderungen. Aber dass diese Umstellung nötig ist, ist alternativlos. Es kommt einerseits die latente Klimakrise, über die wir bereits seit 50 Jahren Bescheid wissen. Wir haben gewählt, immer wieder die großen Hebel nach hinten zu verschieben in der Hoffnung, dass es spätere Regierungen und künftige Generationen angehen werden. Jetzt ist es schon recht dringend geworden, eine Umstellung muss innerhalb von 18 Jahren erfolgen. Das ist eine Herausforderung. Jetzt wird es mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine noch dringlicher. Deutschland tut sich ähnlich schwer, dennoch hat es jetzt Maßnahmen angekündigt. Das heißt, Österreich wird mit seiner starken Abhängigkeit vom russischen Gas in Europa bald allein dastehen. Vielleicht treffen dann andere die Entscheidungen für uns. Vielleicht ist dann nicht mehr die Frage: Können wir es? Sondern: Wie können wir es?
Auch der Atomkraft wird eine Rolle in der Energiewende zugesprochen. Sie raten davon ab. Warum?
Im Vergleich zu Erneuerbaren ist die Kilowattstunde aus Atomenergie zu teuer und liefert hinsichtlich des Umweltschutzes keine vergleichbaren Vorteile. Daher ist sie nicht zu begrüßen. Da wir haben das noch immer ausgeklammerte Problem des Atommüll-Endlagers nicht geklärt. Damit müssen sich noch viele Generationen auseinandersetzen. Als kleine Erinnerung: In Tschernobyl hat der Unfall 1986 stattgefunden und noch immer muss sich dort täglich ein Techniker*innenteam darum kümmern, diesen nicht mehr am Netz befindlichen Reaktor zu warten, zu betreiben und zu kontrollieren, Jahrzehnte danach. Wir haben etwas Besseres zur Verfügung, nur müssen wir umdenken und ein nicht genutztes Dach als brachliegende Ressource sehen.
Ein geeignetes Dach nicht für eine PV-Anlage zu nutzen ist so, als würde ein Bauer Ackerland, das er schon vorbereitet hat, nicht bestellen. Ähnlich ist es mit Verkehrsflächen, Parkplätzen und so weiter, die man nicht mit PV-Anlagen überdacht. Versiegelte Flächen, die nicht für Energiegenerierung mitbenutzt werden, sind ungenutzte Ressourcen.
Apropos ungenutzte Ressourcen: Einige Expert*innen plädieren dafür, die vorhandene Infrastruktur von Speicherkraftwerken und Leitungen weiterhin für Gas zu nutzen. Was sagen Sie als Ökonomin dazu?
Als Ökonomin würde ich es am liebsten sehen, wenn Infrastrukturen fertig genutzt werden, bis sie nicht mehr einsetzbar sind. So würden die volkswirtschaftlichen Kosten so gering wie möglich gehalten werden. Dafür hätte man vor 20 Jahren andere Entscheidungen treffen müssen. Es gab die Vorschläge und Berechnungen dazu, es gab den wissenschaftlichen Beweis dazu. Leider sind die Entscheidungen nicht entsprechend gefällt worden. Mittlerweile sind wir in einer anderen Situation: Wir müssen die Kosten des Nicht-Handelns mitberücksichtigen. Es geht nicht mehr nur darum zu optimieren, die bestehenden Infrastrukturen so gut wie möglich zu nutzen, sondern man muss die Kosten für die Nutzung mitberücksichtigen, wenn wir diese Infrastrukturen bis zum Ende ihrer Nutzungsdauer verwenden, bis sie nicht mehr reparaturfähig sind und ausgetauscht werden müssen. Da wir in einer Welt der Klimakrise leben, ist ganz klar: Wir müssen unsere Emissionen drastisch reduzieren. Deswegen spreche ich mich dafür aus, bestehende Infrastrukturen von fossilen Energieträgern nicht bis zum Ende ihrer Lebensdauer zu nutzen. Entscheidungsträger*innen haben uns diesbezüglich leider in eine Sackgasse manövriert.
Die Kosten, die sie verursachen, übersteigen das Einsparungspotenzial?
Mittlerweile sind wir in dieser Situation, ja. Es ist sehr unerfreulich. Wir müssen diese Fehler einsehen und die Kosten dafür tragen.
Ein geeignetes Dach nicht für eine PV-Anlage zu nutzen ist so,
als würde ein Bauer Ackerland, das er schon vorbereitet hat,
nicht bestellen. Ähnlich ist es mit Verkehrsflächen, Parkplätzen
und so weiter, die man nicht mit PV-Anlagen überdacht.
Versiegelte Flächen, die nicht für Energiegenerierung mitbenutzt
werden, sind ungenutzte Ressourcen.
Ein Lösungsvorschlag lautet, grünen Strom dort zu produzieren, wo es viel Sonne und Wind gibt und gleichzeitig große Freiflächen existieren. In Nordafrika beispielsweise. Was halten Sie davon?
Das Global Footprint Project versucht aufzuzeigen, dass jedes Land eine „Biocapacity“ hat. Wir müssen zu dem Verständnis kommen, dass wir mit dieser natürlichen Kapazität auskommen sollten. Wenn uns das nicht gelingt, dann müssen wir uns teuer „Capacity“ borgen. Norwegen beispielsweise hat einen ähnlich großen Fußabdruck wie Österreich, aber eine viel größere Fläche. Österreich hat ein Defizit bezüglich der Biocapacity, Norwegen hat einen Überschuss. Da könnten wir bei Norwegen höflich anklopfen und fragen, ob es uns gegen entsprechende Abgeltung einen Teil seiner Biocapacity borgt – vertraglich abgesichert, zu fairen Bedingungen. Da sind vermutlich nahegelegene Nachbarn eher zu Rate zu ziehen als weit entfernte.
Im Moment haben wir ein System, das auf kolonialem Denken basiert: Wenn wir mit den Ressourcen, die wir haben, nicht auskommen, holen wir sie uns. Natürlich bezahlen wir dafür, aber es ist klar, dass die Terms of Trade nicht auf Augenhöhe ausgehandelt wurden und eindeutig zugunsten der Länder im Norden verzerrt sind. Die Länder im Süden haben lange zustimmen müssen, weil sie keine guten Alternativen hatten. Daran haben wir uns gewöhnt, aber es ist eine Art von Kolonialismus – nicht mit der Peitsche, aber mit unfairen Preisen. Da müssen wir rauskommen und aufpassen, dass wir nicht in die gleiche Kerbe schlagen, wenn wir das Energiesystem nachhaltig aufsetzen. Das heißt aber nicht, dass wir nur klein und ganz lokal agieren. Wenn wir zum Beispiel mit afrikanischen Ländern auf Augenhöhe verhandeln, ihnen faire Angebote machen und diese aus freien Stücken mitmachen, hätte ich nichts dagegen. Aber da sind viele Wenns dabei. Aus sozio-ökonomischer Perspektive gibt es auch andere Optionen.
Welche wären das?
Unser Handeln zu verändern. Ich sage bewusst nicht Verhalten, weil das gleich auf Haushalte hindeutet. Es sind alle ökonomischen Akteuer*innen gemeint. Es geht hauptsächlich darum, Strukturen zu schaffen, die nachhaltiges Handeln erleichtern.
Können Sie dafür ein Beispiel bringen?
Nehmen wir die Mobilität: Sie lässt in Österreich die Emissionen von Klimagasen noch immer jedes Jahr enorm steigern, obwohl wir deutlich reduzieren müssten. Es ist schwierig, hier allein ohne die geeigneten Strukturen nachhaltig zu handeln. Da brauchen wir einen Kulturwechsel: Ist es normal, dass man mit dem Auto allein in den 1. Bezirk in Wien hineinfährt? Vermutlich nicht. Ein Auto sollte dafür da sein, dass man etwas transportiert, dass man einen Gehbehinderten, die Oma, irgendwohin bringt – dafür borgt man sich das Auto aus. Für den Rest ist klar, dass man aktive Mobilität braucht. Ein Wiener Arzt hat in einem Standard-Artikel gemeint, dass man rein aus gesundheitspolitischer Sicht die inneren Bezirke Wiens für den motorisierten Individualverkehr sperren müsste. Es gibt eine klare, lineare Korrelation zwischen gegangenen Schritten und gesunden Lebensjahren – und da sind Luftverschmutzung, Klimagase, die Versiegelung noch nicht miteingerechnet. Hier gibt es Low Hanging Fruits im Sinne von Möglichkeiten, die sich auf mehreren Dimensionen positiv auswirken. Diese brauchen wir zusätzlich zum technologischen Ausbau der Erneuerbaren, der Speicherkapazitäten u.s.w. Auf der sozio-ökonomischen und der kulturellen Seite gibt es enorme Einsparungspotenziale. Diese sollten nicht als Verzicht bezeichnet, sondern als Gewinn gesehen werden: Wir tun etwas für unsere Gesundheit, für unser Wohlbefinden und damit sparen wir Emissionen ein und reduzieren die Luftverschmutzung.
Dieser Strukturaufbau ist aber auch mit Kosten verbunden …
Implizit wird darüber gesprochen, dass die Energiewende teuer ist. Natürlich ist sie teuer bezüglich Investitionen. Aber wenn wir auf Erneuerbare umgestellt haben, dann haben wir keine Treibstoffkosten mehr. Das System zu betreiben, wird deutlich günstiger sein als das, das wir derzeit haben. Dass die Preise derzeit so hoch sind, liegt am Merit-Order-Prinzip: Der Letzte setzt den Preis an und das sind die kalorischen Kraftwerke, nicht die Erneuerbaren. Hier besteht auch viel Potenzial für Haushalte, für Unternehmen, also für alle ökonomischen Akteure. Hier sind andere Maßnahmen nötig, die uns daran erinnern, sorgfältig damit umgehen, weil ja auch die Infrastrukturen produziert werden müssen, in denen Energie und Materialien stecken.
Aber der Preis muss nicht notwendigerweise hoch sein, wenn wir eine erneuerbare Energieversorgung haben. Es kann sein, dass wir politisch entscheiden, ihn trotzdem hoch zu halten, um ein Signal zu senden, dass es sich um eine wertvolle Ressource handelt und wir sparsam umgehen sollen. Das heißt aber nicht, dass nachhaltige Energieversorgung automatisch teuer ist.
Univ. Prof. Dr. Sigrid Stagl ist Ökonomin mit den Forschungsschwerpunkten nachhaltige Arbeit, ökologische Makroökonomie, integrierte Bewertungsmethoden und sozio-ökonomische Handlungstheorie. Derzeit ist sie die Direktorin des Kompetenzzentrums für Sustainability Transformation and Responsibility (STaR) an der WU Wien. www.sigridstagl.org.
Zum Bericht der IPCC-Arbeitsgruppe III.
Das Interview führte Doris Neubauer.