Recht auf Leben ohne Internet?
Die Digitalisierung schafft soziale Barrieren. Das ist für die öffentliche Verwaltung eine Herausforderung. Gastkommentar von Günter Horniak und Marlon Possard.
Formen der Benachteiligung bei der Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung (Günter Horniak)
Ganz gleich ob man von Leben ohne Internet bzw. auf internetfreies Leben, vom Zwang zur Digitalisierung oder Recht auf analoges Leben sprechen möchte, dass Thema ist relevant – und nicht nur in Wahlkampfzeiten. Die Möglichkeiten, die uns die Digitalisierung im öffentlichen (Geschäfts-)Leben bietet, sind enorm und werden noch anwachsen. Künstliche Intelligenz wird dazu auch einiges beitragen. Ohne Zugang zum Internet stößt man aber immer häufiger auf Schwierigkeiten. Vergessen wird dabei aber oft, dass Digitalisierung nur ein Instrument ist, welches gestaltbar ist. Ein damit verbundener Zwang oder die Darstellung als Alternativlosigkeit ist also auch „Menschgemacht“ ebenso wie der Ausschluss von Teilen der Gesellschaft.
Im Zuge der (natürlich durchaus auch oft positiven) fortschreitenden Digitalisierung zeigen sich auch damit verbundene gesellschaftliche Probleme. Private Unternehmen versprechen durch digitalisierte Prozesse mehr Kund:innenfreundlichkeit, aber optimieren im Wesentlichen nur interne Abläufe und Schnittstellen, auch um Mitarbeiter:innenressourcen einzusparen. Das zeigt sich mittlerweile oft daran, dass Informationen und Serviceleistungen nur noch online zugänglich sind und es nahezu unmöglich ist, mit einem menschlichen Mitarbeiter in Kontakt zu treten. Oder dass manche Leistungen ausschließlich über das Internet bezogen werden können und es nur dann reduzierte Preise gibt (z. B. Eintrittskarten). Menschen so auszuschließen, könnte man noch als in der Entscheidung und Verantwortung dieser privaten Unternehmen liegend, abtun. Ginge die öffentliche Verwaltung auch diesen Weg, wäre das aber nicht akzeptabel.
Schon jetzt sind manche Dienstleistungen in der öffentlichen Verwaltung (wie Handwerkerbonus oder Bundesschatzscheine), nur noch digital abrufbar. Damit werden Teile der Gesellschaft ausgeschlossen. In den aktuellen Diskussionen werden damit zumeist ältere Menschen angesprochen, wobei diesen generell unterstellt wird, dass sie den Übergang einer analogen Sozialisierung in eine digitale Welt nicht bewältigt haben. Das es aber auch an der Komplexität der digitalen Lösungen und nicht an Kompetenzen liegen könnte, weil ja Anwender:innen in die Entwicklung selten bis nie einbezogen werden, wird nicht mal bedacht. Dass bei der Geschwindigkeit der Digitalisierung dann auch jetzt noch „junge“ Menschen im Alter betroffen sein könnten, schon gar nicht. Gängig ist auch der realitätsfremde Hinweis, ältere Menschen sollen sich von Freunden oder ihren Kindern helfen lassen. Nicht alle haben Kinder oder wollen Freunden Zugangsdaten und Passwörter verraten (was man ja auch nicht tun sollte) und wollen ein selbstbestimmtes Leben führen.
Aber nicht nur ältere Menschen sind betroffen. Auch Menschen mit Beeinträchtigungen (und mit fortschreitendem Alter wächst auch diese Gruppe in der Bevölkerung), Menschen ohne finanzielle Mittel für Smartphone und Internetanschluss, obdachlose Menschen oder jene Menschen, die kein Vertrauen in die digitale Sicherheit und die Kontrollierbarkeit der Technik haben (z. B. wenn angenommen wird, dass KI das digitale Formular bearbeitet und darüber entscheidet), wird der Zugang zu Leistungen erschwert oder verunmöglicht, wenn diese nur noch digital angeboten werden. Daher sind hier verschiedene Unterstützungsleistungen nötig, damit ein analoger Zugang erhalten bleibt. Das können weiterhin die klassischen Zugänge wie Formulare auf Papier zur Übermittlung am Postweg sein, aber auch z. B. Berater:innen auf Gemeindeämtern, die bei Onlineanträgen etc. unterstützen. Auch die Vermittlung von Vertrauen in das digitale Angebot (Sicherheit) sowie digitaler Kompetenzen wäre ein Teil der Lösung, aber nicht die Lösung selbst.
Bei der Digitalisierung der Dienstleistungen der Verwaltung (die aus Steuergeldern finanziert wird) muss es um die Schaffung eines digitalen Angebots gehen, welches alle Bürger:innen umfasst und jene nicht ausschließt, die diese Angebote nicht nutzen können. Nur dann können die Ziele wie verwaltungsinterne Effizienzgewinne mit der Vereinfachung der Kommunikation, Zeit- und Ortsunabhängigkeit des Zugangs zur Verwaltung aber auch die Unterstützung eines selbstständigen Lebens für manche Bürger:innen auch vereint werden. Die bloße Verlagerung von analogen Behördenwegen auf digitale, ohne Mehrgewinn oder gar Ausschluss für bzw. von Bürger:innen, darf nicht das Ziel der Verwaltung sein.
Digitalisierung ist kein Selbstzweck und keine Unausweichbarkeit, sondern ist gestaltbar. Teilhabe, Inklusion und Antidiskriminierung sind Voraussetzungen für Demokratie, Partizipation und gelungene Digitalisierung. Wenn in diesem Sinn das Recht auf analoges Leben also das Recht auf Nicht-Diskriminierung von Seiten der Verwaltung nicht mit bedacht wird, ist es mit Gesetzen zu garantieren. Und wir dürfen nicht vergessen: das wahre Leben ist das analoge Leben.
Ein Recht auf analoges Leben? Eine juristische und ethische Bestandsaufnahme (Marlon Possard)
Ein Gesetz in Bezug auf ein „Recht auf ein Leben ohne Internet“, wie aktuell von einigen politischen Verantwortungsträger:innen gefordert, gibt es in Österreich in dieser Form (noch) nicht. Eine ausdrückliche Pflicht für den Staat, seinen Bürger:innen analogen Alternativen bereit zu stellen, existiert gegenwärtig ebenfalls nicht. Die rechtliche Situation muss daher von unterschiedlichen gesetzlichen Bestimmungen abgeleitet werden.
Aus rechtlicher Perspektive finden sich in Österreich zum Status quo gesetzliche Regelungen, die sowohl dem digitalen Fortschritt als auch einem analogen Leben ohne jegliche technologisierten Zugänge (wie etwa ohne dem behördlichen Identitätsausweis „ID Austria“) gerecht zu werden versuchen. Als gesetzliche Basis kann in diesem Kontext das Bundesgesetz über Regelungen zur Erleichterung des elektronischen Verkehrs mit öffentlichen Stellen (E-GovG) hervorgehoben werden, das den technologisierten Kontakt zwischen Bürger:innen und der öffentlichen Verwaltung regelt. Der Gesetzgeber normiert in diesem Zusammenhang ausdrücklich eine Wahlfreiheit für die Bürger:innen im Kontext des (digitalen) Kontakts zu Verwaltung und Behörden auf Bundesebene. Das heißt, dass den Bürger:innen einerseits ein Recht auf digitalen Verkehr eingeräumt wird (siehe hierzu § 1a Abs. 1 E-GovG), andererseits werden mittels § 1a Abs. 3 E-GovG auch andere Kommunikationsarten mit öffentlichen Einrichtungen explizit für zulässig erklärt. Diese anderen Arten können von den Gesetzesunterworfenen, in diesem Kontext häufig auch als sog. „Offliner“ beschrieben, im Rahmen des Behördenkontakts dementsprechend eingefordert werden. De lege lata wird im Rahmen von § 1a Abs. 3 E-GovG zudem ein Schutz sozialer Barrieren in Bezug auf diverse Benachteiligungen festgelegt. Konkret bedeutet dies, dass Bürger:innen, die sich für klassische Wege der Kommunikation mit Behörden entscheiden (z. B. schriftliche Anfragen, Abwicklung von Verwaltungsakten vor Ort in der Behörde), aufgrund einer ebensolchen Wahl nicht diskriminiert werden dürfen. Nur zwischen den Behörden selbst besteht auf Bundesebene gemäß § 1c E-GovG die Verpflichtung zum digitalen Austausch ohne Alternativen untereinander, sofern keine Ausnahmen hierfür vorliegen.
Neben den soeben skizzierten verwaltungsrechtlichen Aspekten, können für eine juristische Einordnung darüber hinaus sowohl datenschutzrechtliche als auch verfassungsrechtliche Bestimmungen prioritär sein. In datenschutzrechtlicher Hinsicht kann das Recht auf Selbstbestimmung im Sinne der Datenverarbeitung angeführt werden. Dieses Recht umfasst, dass das Individuum selbst bestimmen kann, welche Daten technologisiert (weiter)verarbeitet werden. Die Art. 6 und 7 DSG-VO (Einwilligung) sollten hier unbedingt Beachtung finden, vor allem im Hinblick darauf, welche und wie viele Daten und ob welchen Umstands diese preisgegeben werden. Auch hier besteht ein Konnex zu Fragen des Rechts auf ein analoges Leben, denn ein gänzlicher Online-Verkehr steht unter anderem im Widerspruch zu geltenden datenschutzrechtlichen Normierungen und würde in weiterer Folge zu einer mittelbaren Diskriminierung für eine bestimmte Gruppierung von Bürger:innen, aufgrund der beschränkten Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, führen. Auf europäischer Ebene garantiert zudem die Charta der Europäischen Union (GRCh) mit Art. 8 den Schutz personenbezogener Daten und somit des Privatlebens der Bürger:innen. Aus Sicht des Verfassungsrechts kann Art. 7 B-VG und der damit verbundene Schutz vor Diskriminierung und der Gleichheit vor dem Gesetz genannt werden. Menschen, die mit dem digitalen Fortschritt nicht mithalten können oder sich aus anderen Gründen der Benützung des Internets entziehen, dürfen demgemäß keine Nachteile erfahren. Weiters kann aus Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) abgeleitet werden, dass auch ein Leben ohne Internet im Sinne des allgemeinen Persönlichkeitsrechts respektiert werden muss, da Art. 8 EMRK auch die freie Gestaltung des eigenen Lebens umfasst. Diesen Umständen tritt der österreichische Gesetzgeber zumindest auf verwaltungsrechtlicher Ebene mit dem bereits erwähnten § 1a Abs. 3 E-GovG (Wahlfreiheit) entgegen, um mögliche Diskriminierungen zu verhindern.
Zukünftig werden sich, neben juristischen Komplexitäten, auch einige philosophische Problemfelder hinsichtlich einer verstärkten Implementierung von KI und digitalisierter Technologie eröffnen. Als Beispiele können hier sensible ethische Fragestellungen angeführt werden (z. B. in Zusammenhang mit Gesichtserkennungen, Datenschutz, Privatsphäre). Ebenso stellt sich die Frage, wie viel „digitalen Zwang“ eine Gesellschaft überhaupt verträgt. Denn wenn Behördentermine nur mehr online vereinbart werden können und eine gewisse Gruppe von Bürger:innen keine digitalen Zugänge – bspw. aufgrund des hohen Alters oder mangels finanzieller Möglichkeiten – aufweist, so werden hier soziale Barrieren eröffnet, die sowohl gegen geltendes Recht verstoßen als auch aus ethischer Sicht unbedingt hinterfragt werden müssen. Die Aufgabe der philosophischen Ethik ist es, das Leben jener Menschen, die ohne Digitalisierungsanwendungen auskommen (müssen), als legitime Lebensart zu analysieren und die verschiedenen Werte einer Gesellschaft zu beleuchten. Diese Bereiche stehen in enger Verbindung zu Fragen der menschlichen Selbstbestimmung und der Balance zwischen individueller Freiheit und technologisierten Behördenverfahren. Dadurch wird auch der enge Konnex zwischen Fragen des Rechts (z. B. die Sicherstellung von Fairness und Gerechtigkeit) und der Ethik (z. B. das Hinterfragen von gesellschaftlichen Überzeugungen und Werten) deutlich.
Zu den Autoren:
Mag. Dr. Marlon Possard, MSc, MA ist Habilitand am Department für Verwaltung, Wirtschaft, Sicherheit und Politik und am Research Center Administrative Sciences (RCAS) an der FH Campus Wien - University of Applied Sciences.
FH-Prof. Mag. Günter Horniak ist Fachhochschulprofessor am Department für Verwaltung, Wirtschaft, Sicherheit und Politik an der FH Campus Wien - University of Applied Sciences und Studiengangsleiter (BA) des Studiengangs „Public Management“. Public Management ist ein auf die moderne Verwaltung und die öffentliche Wirtschaft zugeschnittenes Studium mit Fokus auf das Gemeinwohl.
Credit: G. Horniak/FH Campus Wien