Der Umgang mit Vielfalt im Bildungswesen
Das Bildungswesen ist sowohl in den Lehr-/Lern-Situationen als auch in seinen Strukturen in weiten Bereichen auf Homogenität ausgerichtet. Der vielfältige gesellschaftliche Wandel stellt es damit vor zahlreiche Herausforderungen. Daraus ergeben sich sowohl Potentiale als auch Problemfelder.
Studien zeigen, dass das Österreichische Bildungswesen die Chancen, die sich durch die Vielfalt der Lernenden ergeben, bisher nicht entsprechend nutzt. Darüber hinaus gibt es hinreichend Evidenz dafür, dass die Heterogenität weitaus größer und mannigfaltiger ist, als den meisten Beteiligten bewusst ist (u.a. bzgl. Migrationshintergrund, Geschlecht, besonderen Bedürfnissen, sozio-okönomischem Status, Bildungshintergrund). Schließlich hat sich Österreich gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, jedes Individuum gemäß seiner/ihrer Möglichkeiten innerhalb des allgemeinen Schulsystems angemessen zu fördern. Somit ist Handlungsbedarf gegeben.
Das Positionspapier soll dazu beitragen, die einschlägigen Forschungsbefunde zur Förderung der vielfältigen Potentiale aller Lernenden und Lehrenden in den Bildungsinstitutionen zu nutzen, um damit das Handeln der Beteiligten sowie aktuelle Reformprozesse auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen.
Handlungsempfehlungen:
Die folgenden Empfehlungen thematisieren (1) einen Paradigmenwechsel als Basis für einen adäquaten Umgang mit Vielfalt im Bildungswesen, (2) den Bedarf an einer fundierten Datenlage sowie breiter Transferforschung und (3) Änderungen im Bildungswesen und seinen Strukturen, um adäquate Rahmenbedingungen zu schaffen.
1) Paradigmenwechsel einleiten
- Durch systematische Information und Kommunikation die Einstellungen und Werte bzgl. „Andersartigkeit“ und „Unterschiedlichkeit“ im Bildungswesen verändern: vom Defizitfokus zu einer Chancenperspektive
- Ziele des Bildungswesens dahingehend ausweiten, dass jegliche Kompetenzen als Ressource und Potential angesehen werden und nicht nur wenige ausgewählte (z.B. entsprechend dem Fächerkanon in Schulen)
- Vorhandenes Wissen und vorliegende psychologisch-pädagogische Konzepte zum Umgang mit Vielfalt bündeln und für einen zielgruppenadäquaten Transfer in die Institutionen des Bildungswesens sorgen
- Die Individualisierung des Lehrens und Lernens ins Zentrum stellen (bei gleichem Thema können unterschiedliche Ziele angesteuert respektive unterschiedliche Wege zur Zielerreichung gewählt werden)
2) Solide Datenbasis und systematischen Transfer schaffen
- Die Demographieforschung mit den Disziplinen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven dem Umgang mit Vielfalt im Bildungswesen widmen, systematisch vernetzen
- Vorhandene Daten durch Kooperationen von Forscher/innengruppen und Disziplinen systematischer nutzen
- Zielgerichtete Datenerhebungen interdisziplinär vorbereiten und durchführen
- Interventionsprojekte unter Einbindung von Praxisexperten/innen entwickeln, durchführen und evaluieren
- Implementationsforschung fördern
- Flächendeckende Umsetzung von best-practice Beispielen unterstützen
- Internationale Erfahrungen nutzen und entsprechende Vernetzungen anstreben
3) Für adäquate Rahmenbedingungen sorgen
- Umgang mit Vielfalt als verpflichtendes Thema in die Pädagogen/innenbildung im Sinne einer kontinuierlichen berufsbegleitenden Qualifizierung aufnehmen
- Diagnostische Kompetenz mit Fokus auf Lernprozessdiagnostik sowie eine evaluative / reflexive Grundhaltung bei Lehrenden im Rahmen von Aus-, Fort- und Weiterbildung fördern
- Bei der Attrahierung von Lehrenden eine adäquate Heterogenität anstreben, um der Vielfalt an Lernenden auch eine Vielfalt an Lehrenden gegenüberzustellen (und damit Identifikationsmöglichkeit und Modellwirkung erleichtern)
- Bildungsinstitutionen (insbesondere Schulen) Spielräume zur Setzung von Schwerpunkten bzgl. Vielfalt geben
- Zur Entwicklung und Umsetzung von Individualisierungs- und Diversity-Konzepten Zeit und Unterstützung geben, um die notwendigen Kompetenzen aufzubauen
- Anbindung von schulexternen Personen (zur Unterstützung im Umgang mit Vielfalt) ermöglichen und finanzieren
- Organisationsentwicklung und interne Qualitätsentwicklung strukturell fördern
Eine sachorientierte und nachhaltige Bildungspolitik – losgelöst von parteipolitischen Diskussionen und tagespolitischen Schauplätzen – wäre für eine konsequente Qualitätssicherung im Bildungssystem generell nötig und würde die notwendige Wertschätzung von Vielfalt sowie die gezielte Förderung jedes Individuums gemäß seiner/ihrer Möglichkeiten durch Individualisierung unterstützen.
Weitere Informationen:
ÖSTERREICHISCHE FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT
„ARGE Bildung und Ausbildung“ (Leitung: Univ.Prof. DDr. Christiane Spiel)
Berggasse 25, 1092 Wien (oefg@oefg.at / www.oefg.at)