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Das Fehlen von Fachkräften macht vielen Unternehmen zu schaffen. Erwerbsinaktive Personen für den Arbeitsmarkt gewinnen, Mitarbeiter*innen weiterbilden und als Arbeitgeber*in attraktiv sein, sind wichtige Hebel, um dem Mangel entgegenzuwirken.  

GESUCHT
Fachkraft/Führungskraft (M/W/D)
Ein Facharbeiter mit orangem Schutzhelm steht auf einem flachen Dach mit Photovoltaikpaneelen auf schrägen Konstruktionen. Er hält mehrere zusammengerollte Pläne unter dem rechten Arm und ein Tablet in der linken
Foto: Getty-Images

Johannes Kutsam kann sich nicht beklagen. Zumindest nicht über ausbleibende Bewerbungen. Interesse an einem Job an einem der fünf Standorte des Modehauses Kutsam in Nieder- und Oberösterreich, das er in fünfter Generation führt, ist momentan durchaus vorhanden. Anders noch als vor einiger Zeit, als direkt nach der Pandemie kaum jemand im Einzelhandel arbeiten wollte. „Was uns aber fehlt“, sagt der 39-Jährige, „sind Menschen, die gerne Führungsverantwortung übernehmen.“ Einen Filialleiter, eine Filialleiterin zu finden, sei schwierig. Die Konkurrenz zu den besser zahlenden Industriebetrieben in der Gegend sei groß, Leute von außen, die führen wollen, zu gewinnen, deshalb kaum möglich. „Und Mitarbeiter*innen aus dem Haus wollen sich die zwischenmenschlichen Themen, denen sie als Führungskraft ausgesetzt wären, für ein paar hundert Euro brutto mehr im Monat nicht antun.“ Kutsam steht mit dem Problem, kompetente Mitarbeiter*innen für sein Unternehmen zu finden, nicht allein da. In vielen Bereichen gibt es derzeit einen Mangel an Fachkräften. Vom Holzmaschinenarbeiter über den diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger und die Elektroinstallateurin bis zur Bautischlerin: Die Liste der Mangelberufe ist lang.

 

Julia Bock-Schappelwein, Wirtschaftsforschungsinstitut
Julia Bock-Schappelwein, Wirtschaftsforschungsinstitut. Foto: Alexander Müller - www.alexandermueller.at

BERUFE MIT EINER JUGENDZENTRIERTEN ALTERSSTRUKTUR, WO AUCH DIGITALISIERUNG UND ÖKOLOGISIERUNG EINE ROLLE SPIELEN, SIND BESONDERS STARK BETROFFEN.

Klimawende nicht ohne Fachkräfte

Vor allem die demographische Entwicklung wirkt sich auf die Verfügbarkeit von Arbeitskräften aus. Die geburtenstarke Babyboomer-Generation geht in Pension, die nachfolgenden Jahrgänge sind schwächer, und es kommen nicht genügend Leute nach. „Berufe mit einer jugendzentrierten Altersstruktur, wo auch Digitalisierung und Ökologisierung eine Rolle spielen, sind besonders stark betroffen“, sagt Julia Bock-Schappelwein vom Wirtschaftsforschungsinstitut. Darunter fallen akademische Berufe wie Ingenieurwissenschafter*innen und IT-Spezialist*innen, material- und ingenieurstechnische Fachkräfte oder Handwerker*innen. Viele davon spielen sowohl im digitalen als auch im ökologischen Wandel eine relevante Rolle. Für die Ökologisierung der Wirtschaft stellt das eine große Herausforderung dar. Denn die lässt sich nur mit qualifizierten Arbeitskräften in den von der EU definierten „Green Jobs“ und anderen klimarelevanten Berufen vorantreiben. Ohne Fahrradmechaniker, Photovoltaiktechnikerinnen, Energieeffizienzberaterinnen oder Heizungsinstallateure wird die Klimawende selbst mit den besten Vorsätzen nicht gelingen.  Es sind aber nicht allein die typischen technischen und naturwissenschaftlichen Fachkräfte, die rar sind. „Eine zweite Gruppe der klimarelevanten Jobs umfasst den wirtschaftswissenschaftlichen Bereich“, sagt der Unternehmensberater und Nachhaltigkeitsmanager Roman Mesicek. Aufgrund der ESG-Berichtspflichten und der Anforderungen, die sich durch das Lieferkettengesetz ergeben, steigt der Bedarf an Mitarbeiter*innen, die sich in diesen Bereichen auskennen.

Mismatch bei Arbeitslosen

Dass aufgrund der anhaltenden Rezession die Arbeitslosigkeit steigt, löst das Problem des Fachkräftemangels nicht automatisch. Denn mehr verfügbare Menschen am Arbeitsmarkt bedeutet noch lange nicht mehr potenzielle Kandidat*innen für Unternehmen. Es sind nämlich vor allem Leiharbeiter*innen und Personen mit geringer Qualifikation, meist nur mit Pflichtschulabschluss, die bei schlechter Wirtschaftslage zuerst ihren Job verlieren. Dazu kommt die fehlende Bereitschaft vieler, für eine Arbeitsstelle umzuziehen. Der Fachkräftemangel bleibt also trotz Rezession bestehen. Um ihm entgegenzuwirken, sind verschiedenste Maßnahmen notwendig. Besonders wichtig sei es, das „ungenützte Arbeitskräftepotenzial“ zu mobilisieren, betont Bock-Schappelwein. Laut Statistik Austria waren das 2022 in Österreich 474.700 Menschen zwischen 15 und 64, die man theoretisch für den Arbeitsmarkt gewinnen könnte. Darunter fallen ältere Personen, Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung, Frauen mit Betreuungspflichten, Menschen mit Behinderung und junge Menschen, die sich weder in Ausbildung noch in Beschäftigung befinden. Niederschwellige Initiativen und langfristige Betreuungsformate bieten gute Möglichkeiten, bislang erwerbsinaktive Personen in den Erwerbsprozess zu integrieren.

Karin Praniess-Kastner, Zero Project
Karin Praniess-Kastner, Zero Project. Foto: Karin Praniess

VIELE DENKEN ZUM BEISPIEL IMMER NOCH, DASS MENSCHEN MIT BEHINDERUNG UNKÜNDBAR SEIEN. DABEI GIBT ES DEN ERHÖHTEN KÜNDIGUNGSSCHUTZ SCHON SEIT ZEHN JAHREN NICHT MEHR.

Inklusion am Arbeitsmarkt

Eine Initiative, die zum Beispiel Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt integrieren möchte, ist Zero Project. Das Projekt holt unter anderem Unternehmen vor den Vorhang, die erfolgreich Menschen mit Behinderung beschäftigen. Bei vielen Unternehmer*innen seien bei diesem Thema leider nach wie vor Vorurteile und Fehlinformationen vorhanden, sagt Organisationsberaterin Karin Praniess-Kastner von Zero Project. „Viele denken zum Beispiel immer noch, dass Menschen mit Behinderung unkündbar seien. Dabei gibt es den erhöhten Kündigungsschutz schon seit zehn Jahren nicht mehr.“ Auch Bedenken, wie die anderen im Team oder Kund*innen auf Mitarbeiter*innen mit Behinderung reagieren könnten, seien oft groß. Dabei bieten Menschen mit Behinderung für den Arbeitsmarkt große Chancen. Entweder weil sie selbst Fachkompetenz mitbringen oder weil sie Fachkräfte entlasten können. Interessierte Betriebe können sich diesbezüglich übrigens kostenlos bei NEBA, dem „Netzwerk Berufliche Assistenz“ beraten lassen. Das Angebot des Sozialministeriums unterstützt bei der Suche von Arbeitskräften, informiert über rechtliche Rahmenbedingungen und Förderungsmöglichkeiten. Im Modehaus Kutsam sind seit Kurzem Lehrlinge beschäftigt, die erst im zweiten Anlauf den Sprung in die Ausbildung geschafft haben. „Aktuell haben wir zwei Jugendliche bei uns am Start, die uns von AMS und BFI vermittelt wurden. Das sind fleißige junge Leute, die aber zum Beispiel eine Lese- oder Rechenschwäche haben.“ Im Rahmen ihres Ausbildungsprogrammes werden die Lehrlinge intensiv betreut, das Unternehmen selbst erhält eine Förderung für jeden Lehrling. „Natürlich sind unsere eigenen Mitarbeiter*innen durch den erhöhten Unterstützungsbedarf stärker gefordert“, sagt Johannes Kutsam. „Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wir mit den Lehrlingen bald tüchtige und fähige Modeberater*innen in unseren Häusern haben werden.“

Vorausschauend agieren

Selbst Unternehmen, die momentan noch nicht mit fehlenden Fachkräften zu kämpfen haben, können in Zukunft davon betroffen sein – vor allem wenn die Belegschaft älter ist und bald viele Pensionierungen anstehen. Nicht alle Unternehmen seien sich der Problematik bewusst, meint Bock-Schappelwein: „Gerade Klein- und Kleinstbetriebe müssen da vorausschauender sein, damit es sie nicht überraschend trifft.“ Betriebe, die bis jetzt kaum Erfahrung mit Personalumschlag haben, weil die Belegschaft über die Jahre oder sogar Jahrzehnte gleich geblieben ist, werden besonders gefordert sein. „Suchprozesse sollen früh genug gestartet werden. Auch die Wirtschaftskammer ist ein guter Ansprechpartner, wenn man dabei Unterstützung braucht.“
Das Finden neuer Mitarbeiter*innen ist eine Sache, das Halten eine andere. Je nach Branche gestalten sich die Rahmenbedingungen unterschiedlich, die Mitarbeiter anziehen und halten. In einer Studie hat sich das Wifo die Kriterien für attraktive Arbeitsgeber*innen angesehen. „Die Arbeitszeitgestaltung spielt sicherlich eine große Rolle“, sagt Bock-Schappelwein. „Das kann sich in Produktionsbetrieben beispielsweise in verschiedenen Schichtmodellen äußern, die an die Präferenzen und die Altersstruktur der Belegschaft angepasst werden.“

Roman Mesicek, Nachhaltigkeitsmanager
Roman Mesicek, Nachhaltigkeitsmanager. Foto: Robert Ringseis

ES SIND ABER NICHT ALLEIN DIE TYPISCHEN TECHNISCHEN UND NATURWISSENSCHAFTLICHEN FACHKRÄFTE, DIE RAR SIND. EINE ZWEITE GRUPPE DER KLIMARELEVANTEN JOBS UMFASST DEN WIRTSCHAFT-SWISSENSCHAFTLICHEN BEREICH.

Betriebsinterne Weiterbildung

Ändert sich durch Neuzugänge die Altersstruktur der Belegschaft, sollten Unternehmen das Miteinander der Mitarbeiter*innen gut im Blick behalten. Möglicherweise entstehen Spannungen zwischen der Belegschaft, die zusammen alt geworden ist, und den neuen jungen Menschen, die in einer ganz anderen Phase ihres Lebens stehen und etwa gerade eine Familie gründen. Angebote zur Gesundheitsvorsorge, Unterstützungsservices in Krisensituationen sowie erfolgsabhängige Entlohnungssysteme können die Zufriedenheit und damit die Loyalität von Mitarbeiter*innen fördern. Immer mehr an Bedeutung gewinnt die Aus- und Weiterbildung. Mitarbeiter*innen können direkt vom Betrieb höher qualifiziert und damit langfristiger an die Firma gebunden werden.  Auch Mesicek sieht in der laufenden Qualifizierung von Arbeitskräften einen wichtigen Hebel im Kampf gegen Fachkräftemangel. Noch ein Vorteil: Durch betriebsinterne Fortbildung könne auf die Bedürfnisse des Marktes schneller reagiert werden: „Die Trägheit der akademischen Ausbildung ist ein Problem. Die Studienpläne von Fachhochschulen beispielsweise können nicht von heute auf morgen geändert werden.“

Johannes Kutsam, Geschäftsführer Modehaus Kutsam
Johannes Kutsam, Geschäftsführer Modehaus Kutsam. Foto: Johannes Kutsam
LANGFRISTIGE BEZIEHUNGEN SIND UNS NICHT NUR MIT UNSEREN KUND*INNEN, SONDERN NATÜRLICH AUCH MIT UNSEREM PERSONAL WICHTIG. ZUM GLÜCK SIND VIELE BEI UNS SCHON VIELE JAHRE BESCHÄFTIGT.

Langfristige Arbeitsverhältnisse

Auch Johannes Kutsam ist sich bewusst, dass er seinen Mitarbeiter*innen möglichst attraktive Arbeitsbedingungen bieten muss, um diese lange zu halten. „Langfristige Beziehungen sind uns nicht nur mit unseren Kund*innen, sondern natürlich auch mit unserem Personal wichtig. Zum Glück sind viele bei uns schon viele Jahre beschäftigt.“ Mit flexibler Arbeitszeitgestaltung oder Homeoffice-Regelung kann Kutsam im Einzelhandel leider nicht wirklich dienen. Bei der Bezahlung liegt das Modehaus Kutsam dafür oft über Kollektivvertragsniveau, die Mitarbeiter*innen bekommen 40 Prozent auf das Sortiment – mehr als in vergleichbaren Betrieben –, Gutscheine, um im Ort essen zu gehen, und Prämien bei gewissen Erfolgen. Was seinen Bedarf an Führungskräften angeht, lotet Johannes Kutsam gerade einen alternativen Lösungsansatz aus: Statt in jeder Filiale einen Leiter, eine Leiterin einzusetzen, könnte es eine Gebietsleitung geben, die für mehrere Filialen zuständig ist: „Diese Person würde dann ausschließlich Leitungsaufgaben übernehmen und könnte unter diesen Umständen auch um einiges besser bezahlt werden. Mal sehen, ob das unser Weg sein wird.“

Erhöhter Kündigungsschutz für begünstigt behinderte Menschen – eine Präzisierung

Die Information, dass es den Kündigungsschutz von Menschen mit Behinderung schon über ein Jahrzehnt nicht mehr gibt, möchten wir an dieser Stelle noch präzisieren.

2011 wurde der erhöhte Kündigungsschutz für begünstigt behinderte Menschen (Menschen, deren Gesamtgrad der Behinderung mindestens 50 Prozent beträgt) gelockert. Der spezielle Kündigungsschutz tritt seitdem in der Regel erst nach Ablauf des vierten Dienstjahres ein.

Dieser spezielle Kündigungsschutz bedeutet grundsätzlich, dass das Unternehmen zuerst die Zustimmung des Behindertenausschusses des Sozialministeriumservice einholen muss, bevor es eine Kündigung ausspricht. Diese Zustimmung wird zum Beispiel erteilt, wenn der Tätigkeitsbereich des begünstigten Behinderten entfällt, der begünstigte Behinderte unfähig wird, die im Dienstvertrag vereinbarte Arbeit zu leisten, sofern in absehbarer Zeit eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nicht zu erwarten ist, oder dieser seine Dienstpflichten beharrlich verletzt. Wichtig ist dabei, dass der Dienstgeber in den ersten beiden Fällen nachweisen muss, dass der begünstigte Behinderte trotz seiner Zustimmung an einem anderen geeigneten Arbeitsplatz ohne erheblichen Schaden nicht weiterbeschäftigt werden kann. Bei befristetem Dienstverhältnis, einvernehmlicher Auflösung oder während der Probezeit wirkt der spezielle Kündigungsschutz für begünstigt Behinderte nicht.

Sandra Lobnig